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Gedenkveranstaltung zu 75 Jahre Darmstädter Wort

Mit dem Darmstädter Wort hat der Bruderrates der Bekennenden Kirche 1947 ein Schuldbekenntnis abgelegt. Er bekannte sich darin zur Mitverantwortung an „Irrwegen“, die zur Katastrophe des Nationalsozialismus führten. Bei einer Gedenkveranstaltung im Elisabethenstift in Darmstadt, wo es vor 75 Jahren entstand, wurde das Darmstädter Wort gewürdigt, aber auch Lücken benannt.

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Politische Zeitansage mit Lücke
Gedenkveranstaltung würdigt „Darmstädter Wort“ zum 75. Jubiläum und bietet auch Raum für Kritik  

„Wir sind in die Irre gegangen“ ist ein markanter, wiederkehrender Satz des Darmstädter Wortes, des Schuldbekenntnisses des Bruderrates der Bekennenden Kirche von 1947. In einem epochalen Schritt bekannte sich dieser zur Mitverantwortung an „Irrwegen“, die zum Nationalsozialismus führten. Die Erklärung sollte einen grundlegenden Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen. Der Veröffentlichung des Darmstädter Wortes vor 75 Jahren ist jetzt in Darmstadt am Ort dessen Entstehung im Elisabethenstift eine Gedenkveranstaltung gewidmet worden. Doch in einem Punkt sei „das Darmstädter Wort selbst in die Irre gegangen“. Das sagte etwa Ilona Clemens, Generalsekretärin des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die an einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Gedenkveranstaltung teilnahm. Sie könne das Jubiläum nicht ungetrübt feiern, weil ein Wort zum Antisemitismus gänzlich fehle. Dies wäre auch im Kontext der damaligen Zeit anders gegangen, kritisierte die Theologin.

Zu der Veranstaltung unter dem Titel „Irrwege verlassen – Friedenswege suchen“ hatten die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, das Evangelische Dekanat Darmstadt, das Agaplesion Elisabethenstift, die Martin-Niemöller-Stiftung und das Zentrum Oekumene gemeinsam eingeladen. Sie bot dreierlei: Raum für die Würdigung der wegweisenden Wirkung des Wortes von 1947 für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, für Kritik an dessen Versäumnissen und für Impulse, die das Wort in der heutigen Zeit geben kann. Auf der Gedenktafel, die seit 2017 vor dem Feierabendhaus des Elisabethenstifts hängt, in dem das Darmstädter Wort verfasst wurde, steht: „Wir sind in die Irre gegangen… Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Darum bitten wir inständig: … werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.“ Unter diesem Zitat ist noch zu lesen: Die Befreiungserfahrung dieses Schuldbekenntnisses ermutigt zum Einsatz für Demokratie, Weltoffenheit, Gerechtigkeit und Frieden.

Dekanatskantor Wolfgang Kleber, der eigens ein Stück zum Darmstädter Wort komponiert hat, brachte dies mit der Mezzosopranistin Irmhild Wicking in einer Klavierversion als Uraufführung zu Gehör: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, eine Front des Lichts gegen die Finsternis bilden zu müssen. Wir meinten, eine christliche Front aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen."

Nach einer Andacht von Dekan Dr. Raimund Wirth und der Begrüßung durch den Geschäftsführer des Agaplesion Elisabethenstifts, Michael Nowotny, führte Pfarrerin Ulrike Schmidt-Hesse in den Ablauf der Veranstaltung ein. Die frühere Darmstädter Dekanin hatte die Vorbereitungsgruppe federführend geleitet. Kirchenpräsident Dr. Volker Jung und der Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch sprachen Grußworte. Die EKHN habe „eine besondere Verantwortung für die Erinnerung an das Darmstädter Wort“, wegen des historischen Ortes, aber auch, „weil der erste Kirchenpräsident Martin Niemöller zu den Verfassern zählte“, so Dr. Volker Jung, der sowohl die „orientierende Kraft“ des Wortes würdigte, als auch dessen Defizite aufzeigte. Kritik äußerte er etwa daran, „dass das Darmstädter Wort keine Silbe für das Menschheitsverbrechen der Shoa übrig hatte“. Auch dass „dem ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre“, wie es in der fünften These heißt, attestiert worden sei, das zu leisten, was das Christentum hätte leisten müssen, sei schon damals scharf kritisiert worden, so der Kirchenpräsident.

Als „Wort politischer Zeitansage“ habe die Denkschrift des Bruderrats dennoch große Bedeutung. Angesichts des derzeitigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine sei das Darmstädter Wort eine „klare Absage gegen Militarismus und Nationalismus“. Das Hoffnungspotential des Wortes hob Dr. Volker Jung hervor, genauso wie den Aspekt von Schuld und Vergebung, „eine existentielle Erschütterung und Reue, die auf das Versöhnungshandeln Gottes hofft“.

Dass das Darmstädter Wort „auf Umwegen seine Wirkung in der evangelischen Kirche entfaltet“ habe wie etwa in der Friedens- und Umweltbewegung, hob Jochen Partsch hervor. Der Oberbürgermeister verglich den „Traum einer deutschen Sendung“, der im Wort als Irrweg benannt wird, mit dem „Traum einer besonderen russischen Sendung“, die auch noch von der orthodoxen Kirche unterstützt werde. Was die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine betreffe, müssten laut Partsch heute „bestimmte Fragestellungen neu bewertet werden“, um dem russischen Aggressor entgegenzutreten. Es bräuchte auch heute „mehr radikale Wortmeldungen“ als Diskussionsanstoß wie das Darmstädter Wort.

Pfarrerin Ulrike Schmidt-Hesse wies darauf hin, dass die Beschäftigung mit dem Darmstädter Wort Anstoß und Ermutigung zum gesellschaftlichen Engagement und gemeinsame Orientierung bedeuten könne, gerade angesichts eines gesellschaftlichen Kontextes, der durch Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimakrise, zunehmendem Antisemitismus und Rassismus geprägt ist. Es müsste „mehr Raum für Debatten und gemeinsames Ringen ohne Abwertung der jeweils anderen Positionen und Personen geben“, so Ulrike Schmidt-Hesse. Das Darmstädter Wort könne Anstoß geben, „Verantwortung zu übernehmen und in Dilemma-Situationen auch Schuld zu übernehmen“.

Den Hauptvortrag über Entstehung, Ziele und Wirkungen des Darmstädter Wortes hielt der Theologieprofessor Dr. Andreas Pangritz aus Osnabrück, Kenner des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft sowie von Christentum und Judentum. „Der Zuspruch der Sündenvergebung schließt den Anspruch der Umkehr von politischen Irrwegen ein“, so der Systematiker zum zentralen Aspekt des Darmstädter Wortes. Prof. Dr. Andreas Pangritz arbeitete in seinem Vortrag ebenso die persönlichen Anliegen der Verfasser Hans Joachim Iwand und Karl Barth sowie der Überarbeiter Martin Niemöller und Hermann Diem zu Inhalten und Formulierungen heraus.

Der Theologe warnte angesichts der so genannten „Zeitenwende“ durch den Ukraine-Krieg vor einer „nie dagewesenen Welle der militärischen Aufrüstung und eine Expansion der Waffenexporte, die alles in den Schatten zu stellen drohen, was zuvor denkbar erschien“. Da scheine es wieder „dringend zu sein, daran zu erinnern, dass das Darmstädter Wort vor diesem Irrweg gewarnt“ habe. Mit der vierten These „Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen.“ gebe das Darmstädter Wort ein „Schuldbekenntnis im Blick auf die kirchliche Beteiligung an der Produktion von Feindbildern in der Nazi-Zeit“ ab. Zugleich warnte Professor Pangritz, dass im Zuge des Gefühls einer „Zeitenwende“ heute wieder ähnliche „weltanschauliche Frontbildungen“ wie im Kalten Krieg aufgebaut würden, wenn etwa so genannte westliche Werte gegen das Böse in Stellung gebracht würden.

Professor Pangritz nannte ebenfalls das Fehlen eines Wortes zum Antisemitismus als Defizit, auch wenn wenige Monate nach dem Darmstädter Wort noch ein – allerdings höchst unzulängliches - „Wort zur Judenfrage“ folgte. In Bezug auf ein mögliches Wiedereinsetzen des Kalten Krieges heute verweist Dr. Andreas Pangritz auf Iwands These, dass die Bibel den Menschen davor warne, das Böse in der Welt ausrotten zu wollen. Wer das wolle, werde selbst böse. Der Theologe gab am Ende unmissverständlich zu bedenken, dass, wenn man der derzeitigen „medial verbreiteten regierungsamtlichen Rede von der Zeitenwende“ vertraue, das Darmstädter Wort heute nichts mehr zu sagen habe. Die Rede von der „Zeitenwende“ sei dazu geeignet, „sämtliche Irrwege erneut zu beschreiten, vor denen das Darmstädter Wort gewarnt hat“. 

Nach dem Vortrag stellte Sabine Müller-Langsdorf, Pfarrerin für Friedensarbeit im Zentrum Oekumene, das Impulspapier „Kirche des gerechten Friedens werden“ von 2019 vor, welches Themen des Darmstädter Wortes für heute aufnimmt. Dieses beinhaltet etwa den Vorrang ziviler Konfliktlösungen vor militärischen Sicherheitsstrategien, Ächtung von Atomwaffen und autonomen Waffensystemen sowie einen Stopp von Rüstungsexporten. Sie forderte, dass man „Putin nicht in eine nukleare Eskalation folgen“ dürfe.
Bei einem anschließenden Gallery-Walk waren die rund 80 Teilnehmenden eingeladen, sich in dem historischen Festsaal des Elisabethenstifts, in dem das Darmstädter Wort verfasst wurde, mit den sieben Thesen an Stellwänden im Einzelnen zu befassen. Hier stellte etwa Dr. Peter Kristen vom Religionspädagogischen Institut Unterrichtsmaterialien zum Darmstädter Wort unter dem Titel „LOST – Irrwege in Kirche und Politik“ vor.

Die stellvertretende Landtagspräsidentin und berufenes Mitglied der Kirchensynode Heike Hofmann, die zu einem Zwischenruf eingeladen war, bezog das Darmstädter Wort auf die heutige Politik. Sie persönlich habe vom Darmstädter Wort gelernt, „sich ganz in den Dienst der Versöhnung zu stellen“. Die Politik könne von dem Wort lernen, „auch Fehler einzuräumen“. Dies sei ein Zeichen der Stärke und würde wieder mehr Vertrauen in die Politik bewirken: „Die Politik sollte mutiger werden, Irrwege einzugestehen und so neue Wege zu wagen“, so die Sozialdemokratin. Sie setze sich persönlich für Frieden ein und glaube an die Kraft des Gebets. In Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine räumte Heike Hofmann Gewissenskonflikte ein und vertrat, dass die Ukraine von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen und das Land „besonnen unterstützt“ werden solle.

Zum Podiumsgespräch gaben zunächst Pfarrerin Ilona Clemens, Pfarrer Dr. Eberhard Pausch, Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt, und Daniel Untch, Referent für Friedensbildung im Zentrum Oekumene, Eingangsstatements ab. Pfarrerin Sabine Müller-Langsdorf und Winfried Kändler, Bildungsreferent im Evangelischen Dekanat Darmstadt, moderierten. Ilona Clemens mahnte das Fehlen des Themas Antisemitismus als „Leerstelle“ im Darmstädter Wort und forderte ein zuvor bereits im Publikum geäußertes „Darmstädter Wort 2.0“. Angesichts des jüngsten Documenta-Skandals forderte Ilona Clemens, die Antisemitismus- mit der Postkolonialismus-Debatte zu verknüpfen. Pfarrer Dr. Eberhard Pausch nannte das Darmstädter Wort zunächst einen „mutigen und progressiven Schritt mit Tücken und Lücken“. Es sei 1947 von einer Minderheit in der Bekennenden Kirche verfasst worden, auch heute sollten sich „Minderheiten auch gegen den Strom äußern“. Die im Darmstädter Wort geforderte „Versöhnung der Völker“ sei in Form eines „gerechten Friedens“ auch heute notwendig. Anders als im Darmstädter Wort plädiert Dr. Eberhard Pausch für ein „Aufeinander beziehen“ von Kultur und Christentum, auch Judentum und Islam. Das Darmstädter Wort beinhalte bereits die Trias Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Anstatt das Wort heute zu einem „Darmstädter Wort 2.0“ zu überarbeiten, plädierte Pausch vielmehr zu einer achten These oder zu einem vollständig neuen Wort: „Warum sollte nicht von Darmstadt ein neues Wort ausgehen?“. Ein solches sollte aber eher die Form einer Erklärung oder Denkschrift haben.

Daniel Untch würde den Begriff des „schrankenlosen Gebrauchs der politischen Macht“ im Darmstädter Wort heute eher durch wirtschaftliche Macht ersetzen, die aus seiner Sicht „Maß und Mitte verloren“ habe. Auf heute bezogen würde er statt „Wir sind in die Irre gegangen“ formulieren: „Wir gehen in die Irre.“ Ein weniger ressourcenintensiver Lebensstil müsse das Ziel sein. Hier sehe er jedoch bereits etwa viele engagierte junge Menschen, auch Wissenschaftler, die sich für Nachhaltigkeit und eine Energiewende einsetzten. Dies seien „Schritte, die nicht in die Irre gehen“. Die folgende Diskussion ergab, dass hier beides nötig sei: systemisches und individuelles Handeln. Die gegenwärtige Krise solle auch als Chance wahrgenommen und es müsse den Menschen, auch der Kirche, etwas zugemutet werden. „Wir müssen uns als Schicksalsgemeinschaft begreifen“, forderte Daniel Untch.

Die Kirche solle sich in gesellschaftlichen Fragen durch Reden und Handeln pointiert einbringen, so die Diskutantinnen und Diskutanten. Michael Karg, Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung, und Mitglied der Vorbereitungsgruppe zur Veranstaltung 75 Jahre Darmstädter Wort, verabschiedete die Gäste mit dem Segen.

Hintergrund Darmstädter Wort
Am 8. August 1947 veröffentlichte der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland ein „Wort zum politischen Weg unseres Volkes“, das er in Darmstadt verfasst hatte. Es ist das letzte große Wort des noch nach dem Ende des Krieges existierenden Bruderrates der Bekennenden Kirche und prangert die Irrwege des Deutschen Volkes an, die in die Katastrophe von Nationalsozialismus und Krieg führten. Es gilt als Positionspapier, das nicht nur nach innen an die Kirche gerichtet war, sondern im Sinne einer Denkschrift an das gesamte Volk. Es wollte den Deutschen, die schon vor der NS-Zeit eingeschlagenen Irrwege aufzeigen. Allerdings fehlt in dem „Darmstädter Wort“ auch ein Irrweg: Weder Antisemitismus noch Rassismus werden darin thematisiert. Das Wort kann auch heute zur kritischen Reflexion gegenwärtiger Irrwege helfen und zu neuen Schritten ermutigen: Schritte hin zu Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung und zur Überwindung von Antisemitismus und Rassismus. 

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