Jubiläum 20 Jahre Notfallseelsorge
„Erster Schritt aus dem Tal der Tränen“
10.02.2020 dl_mtj Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Darmstadt. „Mit Empathie und Solidarität wollen Sie für Menschen in Not da sein“, sagte Dekanin Ulrike Schmidt-Hesse vom Evangelischen Dekanat Darmstadt-Stadt zu den neuen Mitgliedern der Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung. Sie wurden im Rahmen eines Ökumenischen Gottesdienstes im Offenen Haus in Darmstadt öffentlich zu diesem besonderen Dienst beauftragt. Mit Damaris Adam (Weiterstadt), Florian Grewe (Erzhausen), Pia Kuner (Darmstadt), Heribert Varelmann (Darmstadt), Dr. Heidi Lukasch (Alsbach-Hähnlein), Ute Fischer (Weiterstadt), Dr. Brigitte Batarseh (Seeheim), Alexander Venner (Riedstadt), Katrin Baeumichen (Weiterstadt) werden „neun Frauen und Männer unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Berufen, Lebenssituationen und Biografien, spezifischen Erfahrungen und Befähigungen sich ehrenamtlich zum Wohle anderer einsetzen“, betonte die Dekanin. In seiner Predigt ging Dekan Dr. Christoph Klock vom Katholischen Dekanat Darmstadt auf Notsituationen ein wie der plötzliche Unfalltod eines Angehörigen: „Das sind für Menschen Grenzerfahrungen, an denen sie zu scheitern drohen.“ Mit den Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern komme es zu einer unvermuteten Begegnung. „Sie zeigen ‚ihr seid nicht alleine‘“, dies könne ein „erster Schritt aus dem Tal der Tränen und der Wüste der Einsamkeit“ sein, so Klock. Er verwies auf die „Helligkeit von Glaube und Liebe“, aus der die ehrenamtlich Tätigen Kraft schöpfen, um mit viel Intuition und Einfühlungsvermögen Menschen in traumatischen Situationen zu begleiten. Gemeinsam mit Schmidt-Hesse und Klock leiteten diesen Gottesdienst Arno Allmann, Dekan des Evangelischen Dekanats Darmstadt-Land, und Susanne Fitz, die katholische Beauftragte für Notfallseelsorge des Bistums Mainz. Detlef Winterstein und weitere Mitglieder des Leitungsteams der Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung wirkten ebenfalls mit und übergaben an die neuen Mitarbeiter die gelb-blauen Jacken, die sie nun während ihrer Einsätze tragen werden, sowie Rucksäcke und eine rote Rose, die sinnbildlich für die Schönheit und Verletzlichkeit des Lebens stehe.
Die Beauftragung ist der Abschluss einer komplexen Ausbildung mit 80 Unterrichtseinheiten, die sie zuvor durchlaufen haben und nun im Notfall „erste Hilfe für die Seele“ leisten können. Die Notfallseelsorge ist integraler Bestandteil der Rettungskette aus Polizei, Feuerwehr und notärztlicher Versorgung. Die Mitarbeitenden helfen betroffenen Menschen durch Zuwendung und Beruhigung über die ersten Stunden hinweg, sorgen für Orientierung und unterstützen dabei, Notwendiges in die Wege zu leiten.
Jubiläum „20 Jahre Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung“
Bereits 2001 war Dr. Herrad Schenk Gastrednerin bei einer Jubiläumsfeier der Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung, um das einjährige Bestehen zu würdigen. Nun gibt es diese Einrichtung 20 Jahre und Schenk ging in ihrem Vortrag der Leitfrage nach „Wie gehen wir mit Schicksal um?“. Ihre zentrale These: Menschen von heute in westlich orientierten Gesellschaften tun sich schwerer im Umgang mit Schicksal als in der Vergangenheit. Im Mittelalter bis zur frühen Neuzeit wurden Schicksalsschläge als von Gott gesandte Strafe oder Prüfung angesehen. Heute hätten Menschen objektiv eine große Gestaltungsmacht, könnten durch hochentwickelte Wissenschaft und Technik sowie Fortschritte in der Medizin vieles selbst steuern. Das verleite zu dem Gefühl von Omnipotenz und Allmacht. „Gleichzeitig entsteht das Gefühl von Ohnmacht, wenn ein Angehöriger an einer schweren Krankheit stirbt, andere diese aber überleben“, so Schenk. Die Helferinnen und Helfer der Notfallseelsorge hätten häufig mit Menschen zu tun, die einen Schicksalsschlag erleiden, der plötzlich auftritt - sei es Unfall, Tod oder Suizid eines nahen Angehörigen. Aber auch die Diagnose einer unheilbaren Krankheit oder der unerwartete Verlust des Arbeitsplatzes könnten eine solche Wucht, Schwere und Unausweichlichkeit für die Einzelne bzw. den Einzelnen haben. Das gelte ebenso für Naturkatastrophen wie Lawinen oder Erdbeben, die seit 20 Jahren in Folge des Klimawandels wieder verstärkt auftreten. Krieg, Flucht und Verfolgung sowie Terrorakte seien in diesem Zeitraum präsenter als zuvor und die „geflohenen Menschen stehen vor der Tür“. Neu sei auch die Tendenz, die Schuld für Schicksalsschläge verstärkt bei anderen zu suchen und auf Entschädigung zu bestehen. Ihrer Erfahrung nach entspringt dies „unseren Allmachtfantasien und der Vorstellung: mir wird das nicht passieren“. Gleichzeitig existiere eine tiefe Verunsicherung in der Gesellschaft, denn “wir haben nichts im Griff“. Trotz Wissenschaft, Technik und Wohlstand gebe es faktisch keine Sicherheit. „Wir werden in existenzielle Unsicherheit hineingeboren. Geistige, physische und seelische Gesundheit und Identität können uns in jedem Moment genommen werden“, sagte Schenk. Das hielten Menschen nicht aus, fühlten sich ausgeliefert.
Menschen in existenziellen Krisen begleiten
20 Jahren gibt es die Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung, seit 2001 wird sie vom evangelischen Pfarrer Heiko Ruff-Kapraun hauptamtlich geleitet. Seit fünf Jahren gehört Susanne Fitz, katholische Beauftragte für Notfallseelsorge des Bistums Mainz, als Hauptamtliche zum Leitungsteam. Die Mitarbeitenden der Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung können in zwei Jahrzehnten auf 3000 Einsätzen zurückblicken, also im Schnitt drei pro Woche. Dass die Notfallseelsorge inzwischen ein integraler Bestandteil in der Rettungskette ist, zeigten die Grußworte von Polizeioberrat Michael Dalfuß, (Leiter 1. Polizeirevier Darmstadt), Johann Braxenthaler (Branddirektor der Feuerwehr Darmstadt), Dr. Jens Büttner (Ärztlicher Leiter Rettungsdienst). Die Notfallseelsorger*innen würden erste Hilfe für Betroffene oder Angehörige leisten, sich aber auch um Personen der Einsatzkräfte kümmern, die psychologisch-soziale Unterstützung benötigen.
Es sei nicht selbstverständlich, dass ein Projekt wie die Notfallseelsorge, das überwiegend von ehrenamtlich Mitarbeitenden getragen wird, 20 Jahre besteht, betonte Pfarrer Andreas Mann vom Zentrum Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Der Beauftragte für die 24 Notfallseelsorgeeinrichtungen im Kirchengebiet forderte eine stärkere Anbindung und Unterstützung dieser gesellschaftlich bedeutsamen Leistung seitens der EKHN. Winfried Reininger, Ordinariatsrat im Bistum Mainz, dankte insbesondere den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Für ihre innere Stabilität wünschte er ihnen Gottvertrauen, die durch Krisen trage. Die Vertreterinnen der gemeinsamen Notfallseelsorge Südhessen - Pfarrerin Karin Ritter (Bergstrasse), Pfarrerin Annette Herrmann-Winter (Odenwald) und Waltraud Langer (Landkreis Darmstadt-Dieburg) nutzen die Jubiläumsfeier, um die wichtige Rolle von Pfarrer Heiko Ruff-Kapraun im Aufbau, der Professionalisierung und dem Profil der Notfallseelsorge in Südhessen zu würdigen. Er habe über ein halbes Berufsleben hinweg tragfähige Strukturen aufgebaut immer wieder neue Ehrenamtliche motiviert, integriert und fortgebildet. „Wir haben ihn als guten Seelsorger erlebt, der mit viel Engagement Menschen in Krisen begleitet und ein Gespür für deren Bedürfnisse hat“, betonten die drei Kolleginnen und lobten den Teamgeist in der Notfallseelsorge Südhessen. Detlef Winterstein moderierte humorvoll und charmant die Jubiläumsfeier. Die musikalische Umrahmung gestaltete Miriam Sticher auf der Harfe.
Hintergrund:
Die Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung wird getragen vom Evangelischen Dekanat Darmstadt-Stadt, Partner sind das Evangelische Dekanat Darmstadt-Land und das katholische Dekanat Darmstadt. Seit 2001 ist der evangelische Pfarrer Heiko Ruff-Kapraun hauptamtlicher Leiter der Notfallseelsorge Darmstadt und Umgebung. Aktuell arbeiten rund 50 Ehrenamtliche mit, etwa die Hälfte wohnt in Darmstadt, die anderen in den Kommunen des Umlandes. Seit 2015 beteiligt sich auch die katholische Kirche an der Notfallseelsorge. Susanne Fitz, katholische Beauftragte für Notfallseelsorge des Bistums Mainz, gehört als Hauptamtliche zum Leitungsteam.
Nach dem S.O.S.-Prinzip - Stabilisieren, Orientieren, Schützen - begleiten Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger vor Ort Angehörige, aber auch Einsatzkräfte. Seit 2007 gibt es Standards vom Bundesministerium des Inneren für die psychosoziale Notfallversorgung, damit wurde die seelische Notfallversorgung verbindlicher Teil in der Rettungskette und es gibt eine Grundlage für die Ausbildung Ehrenamtlicher. Heute durchlaufen diese eine komplexe Ausbildung mit 80 Unterrichtseinheiten. Bestandteile der Ausbildung sind Gesprächsführung, Traumatologie und der Kontakt zu den Gliedern der Rettungskette - Feuerwehr, Notdienste, Polizei. Die Ehrenamtlichen übernehmen per Einsatzplan jeweils zu zweit Schichten der Rufbereitschaft. Während ihres Dienstes können sie selbst Supervision in Anspruch nehmen.