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Evangelische Kirche bei Kriegsende: Zusammenbruch und Neuanfang

Stock photo © rglinskyZerstörte HäuserSpuren des Zweiten Weltkriegs: Ruinen in Dresden

Das Ende des zweiten Weltkrieges erlebte die evangelische Kirche in Deutschland als Zusammenbruch und zugleich als Befreiung. Der Neuaufbau gestaltete sich als ihre größte Herausforderung im zwanzigsten Jahrhundert.

Am 8. Mai 1945 endeten in Europa fünf Jahre Krieg mit einer Bilanz von über 50 Millionen Toten. Darüber hinaus hatte eine Generation von  Kriegswaisen, Vertriebenen und Traumatisierten eine ungewisse Zukunft vor Augen. Erst im Rückblick erschloss sich die historische Chance des Kriegsendes, die der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vierzig Jahre später als einen Tag der Befreiung deutete. Auch die evangelische Kirche in Deutschland erlebte den 8. Mai 1945 als totalen Zusammenbruch und Neubeginn.

Neuanfang mit einem ehemaligen KZ-Häftling und Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit

 „Die evangelische Kirche musste sich völlig neu aufstellen“, sagt die Professorin für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Gießen, Athina Lexutt. Den Neubeginn symbolisierte in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) die Wahl von Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984) zum ersten Kirchenpräsidenten der EKHN. Mit dem ehemaligen persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers im Konzentrationslager Dachau und führenden Vertreter der Bekennenden Kirche (Oppositionsbewegung während der Zeit des Nationalsozialismus) wurde eine Richtungsentscheidung getroffen. Viele Kirchenvertreter, die nach Kriegsende ihren Dienst antraten, verstanden die EKHN als eine Kirche in der Tradition der Bekennenden Kirche mit ihrem Aufbau der Kirche von der Gemeinde her und ihren „bruderrätlichen“ Leitungsstrukturen – deshalb wurde sie auch nicht zentral von einem Bischof geleitet. Denn die Erfahrungen mit einem Landebischof auf dem Gebiet von Hessen-Nassau waren keine guten: Während des nationalsozialistischen Terror-Regimes hatte der Landesbischof versucht, das „Führerprinzip“ in der Kirche einzuführen.

Schuld eingestehen

Nach dem Krieg musste die evangelische Kirche  das Verhältnis zum Staat neu ordnen. „Dazu musste sich die Kirche einer Mitschuld am Krieg stellen, und spätestens, nachdem die Gräueltaten der Nationalsozialisten völlig ans Licht kamen, Stellung beziehen, warum sie dazu vorher keine Stellung bezogen hatte.“ 

Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18. Oktober 1945, an dem Martin Niemöller maßgeblich mitwirkte, nahm die neu formierte Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre Mitschuld am Krieg und den nationalsozialistischen Verbrechen an. Das Bekenntnis war ein Ausdruck von Schwäche und Stärke zugleich. „Unter dem internationalen Druck wollte die evangelische Kirche als Gesprächspartner in der Völkergemeinschaft wieder anerkannt werden. Andererseits ist die Freiheit und das Bekenntnis zur Schuld auch etwas zutiefst Protestantisches, was sich im Stuttgarter Schuldbekenntnis Bahn gebrochen hat“, so Athina Lexutt. 

Neue Haltung zu den Juden entwickeln sowie sich der Mitverantwortung an der Shoa stellen 

Das Entsetzen über den Massenmord an Juden machte die evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst stumm. Erst die EKD-Synode etablierte 1950 in Berlin-Weißensee eine völlig neue Denkweise. Sie bekannte „die bleibende Erwählung der Juden“ durch Gott, auch über Jesus Christus hinaus, zudem bekannte die Kirche eine Mitschuld an der Shoa. Die Grundlage dazu hatte der Internationale Rat von Christen und Juden gelegt, indem er 1947 betont hatte, dass im Alten und im Neuen Testament der Bibel derselbe Gott bekannt werde. Im Gebiet der EKHN entstanden zwölf regionale Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Sie befassen sich mit theologischen Fragen, erinnerten  an das jüdische Leben in Deutschland und traten für Versöhnung ein. 1953 gründete sich schließlich der Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau. Die EKHN hat sich auch in den folgenden Jahren intensiv mit den historischen und theologischen Dimension der christlich begründeten Judenfeindschaft auseinandergesetzt und ihre Abkehr davon 1991 in der Erweiterung ihres Grundartikels zum Ausdruck gebracht: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie (die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“

Demokratisches System in der Kirche installieren

Der Neuaufbau der Kirche wurde wesentlich vom Geist der Bekennenden Kirche und der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 beeinflusst. Ganz konfliktfrei sieht Prof. Athina Lexutt den organisatorischen Neuaufbau aber nicht: „Es gab zwei Tendenzen. Einmal konservative Kräfte, die sich an alten Ideen orientierten und die Fortschrittlichen, die in der Kirche ein demokratisches System installieren wollten.“

Dazu seien dann noch Fragen der Bekenntnisgemeinschaft gekommen. Sollte die evangelische Kirche lutherisch, reformiert oder uniert sein? „Das Resultat dieses Prozesses ist das Konstrukt, das wir bis heute haben: Die Landeskirchen können ihrem Bekenntnisstatus weiter folgen und leben alle zusammen in einer evangelischen Kirche in Deutschland“, stellt Prof. Athina Lexutt fest. Federführend seien hier vor allem die Landeskirchen aus Bayern, Württemberg und Hannover gewesen. „Gerade der Leiter der Württembergischen Landeskirche Theophil Wurm nahm in Deutschland das Heft in die Hand. Und in Hessen-Nassau setzte sich Martin Niemöller für eine Neustrukturierung der Kirche ein.“

Politisch einmischen aber nicht einer bestimmten Seite das Wort reden

Vor diesem Hintergrund ist auch die neue politische Rolle der evangelischen Kirche seit 1945 zu verstehen. „Das Ziel war es, politisch selbstständig zu denken“, sagt Prof. Lexutt. „Hier hat der Theologe Karl Barth stark nachgewirkt mit der Vorstellung einer Königsherrschaft Christi. Es geht also im Wesentlichen um die Frage, ob es möglich ist, einerseits Bürger der Welt zu sein und gleichzeitig Bürger des Reiches Christi“. Das bedeute in der Konsequenz, dass die Kirche im weltlichen Geschehen als ein Korrektiv wirkt und „auf gar keinen Fall mehr nur einer politischen Seite das Wort redet“. Ausdruck dieses Selbstverständnisses seien hier vor allem die Denkschriften der Kirche und ihr soziales und gesellschaftspolitisches Engagement. 

Spannung zwischen Verführbarkeit und Standhaftigkeit muss die Kirche aushalten

Auch im internationalen Kontext hat sich die evangelische Kirche neu etabliert. Seitdem und vor allem in den 60er und 70er Jahren hat sich die Kirche bei den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eingebracht und eindeutig Position bezogen. Dazu kam eine Verortung in den globalen Netzwerken, wie zum Beispiel im christlich-jüdischen Gespräch. „Eine Neuheit war auch die Arbeit der evangelischen Akademien. Das Konzept, mit Bildungspolitik über religiöse Fragen hinaus Menschen zu erreichen, das ist nach dem Krieg gewachsen“, betont Prof. Athina Lexutt. Das alles seien positive Zeichen.

Für die Zukunft sei entscheidend, „dass die Kirche und die Menschen die dialektische Spannung zwischen Verführbarkeit und Standhaftigkeit aushalten“, resümiert Prof. Lexutt. So hat es auch Richard von Weizsäcker gesehen, wenn er meinte: „Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet.“

Zitate: 

Martin Niemöller:

"Zuschauen und nichts tun, das ist die eigentliche Sünde."

"Was würde Jesus dazu sagen?"

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[Benjamin Schröter]

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