Der Volkstrauertag im Kloster Arnsburg als Ruf zur Menschlichkeit
Gedenken, Mahnen, Handeln
17.11.2025
ast
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Der Kriegsgräberfriedhof Kloster Arnsburg liegt still unter dem klaren Herbsthimmel. Zwischen den mit Thymian bepflanzten Gräbern, die von Graswegen gesäumt werden, und den verstreuten Basaltlava-Kreuzen ruht die Erinnerung an knapp 450 Opfer des Zweiten Weltkriegs und der NS-Gewaltherrschaft – Soldaten, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter aus Polen, der Sowjetunion, Ungarn und Rumänien. Auch 81 Frauen und sechs Männer, die kurz vor dem Eintreffen der US-amerikanischen Truppen in Hirzenhain ermordet wurden, fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Vor der imposanten Kirchenruine und dem restaurierten Ostbau wirkt dieser Ort wie ein ehrwürdiges Mahnmal, das Stille und Würde zugleich ausstrahlt. An diesem Tag wurde auf jedes Grab ein kleines Gesteck aus Tannenzweigen gelegt – ein stilles Zeichen des Gedenkens.
Am Gedenkstein im Kapitelsaal, mit der Inschrift „mortui viventes obligant“ – Die Toten verpflichten die Lebenden –, wird die Botschaft dieses Ortes sichtbar: Die Opfer sprechen aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart, und wir, die Lebenden, tragen die Verantwortung, aus der Erinnerung zu handeln. Über 100 Menschen waren gekommen, um diese Botschaft am Volkstrauertag 80 Jahre nach Kriegsende lebendig zu halten. Besonders eindrücklich: Junge Stimmen der Dietrich-Bonhoeffer-Schule Lich sprachen den Satz zuerst aus, bevor am Ende der Gedenkfeier die Kränze niedergelegt wurden.
Die Schülerinnen und Schüler der Dietrich-Bonhoeffer-Schule Lich – begleitet von ihrem engagierten Lehrer Jan Hildebrand – schilderten in kurzen, eindringlichen Ansprachen, was dieser Tag für sie bedeutet. „Was ist Frieden für uns? Und was können wir tun, damit es nie wieder Krieg gibt?“ fragen sie. Keine routinierte Rede, keine Floskel, sondern echte Sorge. Ein Satz fällt immer wieder, schlicht und dringend: „Nie wieder Krieg.“
Landrätin Anita Schneider bekräftigt die Bedeutung des Erinnerns: „Jede Stunde des Zweiten Weltkriegs hat 1045 Tote gebracht. Insgesamt 80 Millionen Tote.“ Und sie fügt hinzu: „Dieser jährliche Gedenktag sollte kein routiniertes Gedenken sein, sondern eines, das uns innehalten lässt – und uns prägt in dem, was wir tun.“
Dekanin Barbara Lang führt den Gedanken weiter. Sie verweist auf den fragilen Frieden in Europa und mahnt, wachsam zu bleiben. „Erinnern, mahnen, handeln – dieser Dreiklang steht für mich über dem heutigen Tag.“ Dabei spricht sie über die Gedichte aus Dietrich Lohffs „Requiem für einen polnischen Jungen“. Besonders das Gedicht von Martin Gumpert mit dem Titel „Euch fehlt die Phantasie“ hallt nach. Geschrieben bereits 1934, zeichnet es auf erschreckend genaue Weise die Mechanismen vor, die bald zu Verfolgung, Entrechtung und Gewalt führen sollten – und in vielen Punkten auch Realität wurden. Wer Gumperts Worte liest oder hört, spürt, wie frühzeitig die Warnung formuliert war – und wie bedrückend klar sie heute noch wirkt. Jahrzehnte später, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stellt man fest: In manchem hat die Menschheit scheinbar nichts dazugelernt. Konflikte, Machtmissbrauch, Ausgrenzung – die Zeilen des Gedichts scheinen sich bis in die Gegenwart zu spiegeln. Wer Gumperts Worte hört, versteht, warum Dekanin Lang sagt: „Gerade heute brauchen wir eine Phantasie gegen die Gleichgültigkeit.“
Nach der Kranzniederlegung verweilen viele noch im Dormitorium. Dort erklingt das „Requiem für einen polnischen Jungen“ von Dietrich Lohff – erstmals als Teil dieser Gedenkfeier. Die Marienstiftskantorei Lich unter Leitung von Kantor Christof Becker und ein kleines Orchester nehmen die Zuhörenden mit in die Musik, die Geschichten erzählt. Geschichten von Kindern, von Träumen, von Angst und von plötzlichem Tod. Vom Lärm des Krieges verschüttet, finden sie nun in Sprache und Gesang ihren Ausdruck.
Die Mezzosopranistin Johanna Krell singt mit ergreifender Klarheit und tiefem Ausdruck. Das „Agnus Dei“ von Samuel Barber beschließt den Abend – als Bitte um Frieden und Gnade.
Die Toten sind still. Doch sie sprechen noch immer. Aus Erinnerung erwächst Verantwortung – besonders jetzt. Während im Dormitorium die letzten Klänge verklingen, mahnt die Gegenwart uns: Am 1. Adventswochenende will sich in Gießen die Jugendorganisation der AfD gründen. Eine Partei, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft ist. Eine Jugendorganisation, die bewusst in die Mitte der Gesellschaft hineinwirken will – in eine Gesellschaft, die gerade erst beginnt, zu lernen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist.
Pröpstin für Oberhessen, Dr. Anke Spory, ruft daher Kirchengemeinden und Menschen im Gießener Land auf, jetzt Haltung zu zeigen: „Wir glauben daran, dass Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat. Und wir sind froh, dass das Grundgesetz diese Würde jedes Menschen für unantastbar erklärt hat.“ Der Ruf ist klar: Farbe bekennen – für Demokratie, für Menschenwürde. Friedlich, gewaltfrei, entschieden.
Am 29. November wird auf dem Berliner Platz das „Fest der Demokratie“ gefeiert. Das Evangelische Dekanat Gießener Land ist bei diesem Fest aktiv dabei, ebenso mit Info-Ständen an den Hessenhallen. Denn der Volkstrauertag ist kein Tag des Stillstands, Gedenken ohne Handeln bleibt nur Ritual. Die Toten verpflichten uns – zu mutiger Phantasie und lebendiger Menschlichkeit.
Der Tag im Kloster Arnsburg endet. Aber das, was er aufgerufen hat, darf nicht enden. Die Toten haben keine Stimme. Unsere Stimme ist ihnen geliehen. Und es ist an uns, sie zu nutzen.







