Fachtag
Hinsehen und nicht wegschauen
Becker-von Wolff
10.07.2025
hjb
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Ob Kita, Jungschar, Orgelunterricht oder Jugendarbeit: In vielen Bereichen haben ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeitende mit Schutzbefohlenen zu tun. Die Haltung zu den jungen Menschen ist entscheidend. Wichtig ist es, Respekt zu zeigen, Achtsam zu sein und Grenzen zu setzen. Im Umgang miteinander lassen sich Regeln am besten gemeinsam aufstellen. Tipps dazu gab es beim Fachtag zum Thema „Sexualisierte Gewalt“. Aber es ging auch um die Aufarbeitung und Prävention
Wie wichtig ist die Aufarbeitung ist, zeigen Studien zu Kindern in kirchlichen Heimen von 1945 bis 1975, die Anette Neff kurz streifte. Viele Betroffene schweigen über Jahrzehnte, manche Tat bleibt deshalb ohne Konsequenz: im Schnitt dauert es etwa 34 Jahre bis Menschen über Erlebtes aus der Vergangenheit sprechen können. Auch wenn manches rechtlich verjährt, die Betroffenen vergessen das Erlebte nicht. Sie müssen es erzählen dürfen, sagte Anette Neff, in der Begleitung und im Gespräch mit ihnen lasse sich überlegen, was ihnen weiterhilft.
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Sexualisierte Gewalt ist nie ein Problem ausschließlich der Vergangenheit, sondern stets auch eine ständige Gefahr in Gegenwart und Zukunft – und das auch innerhalb der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und ihren Gemeinden. Umso wichtiger sind neben der Aufarbeitung auch Intervention und Prävention. Intervention ist zwingend nötig, sobald es Anzeichen gibt, dass haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeitende ihrer Pflicht, Schutzbefohlene vor Gewalt zu bewahren, nicht nachkommen. Und dass Situationen von Ausgrenzung und möglicher Gewalt möglichst gar nicht erst entstehen können, dafür sind präventive Maßnahmen unerlässlich.
Intervention und Prävention bildeten daher auch die Schwerpunkte des Fachtags zum Thema „Sexualisierte Gewalt“, den das Evangelische Dekanat an der Dill jetzt in Kooperation mit der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN organisiert hat. Oberkirchenrätin Dr. Petra Knötzele, Leiterin der Fachstelle, und Anette Neff waren gemeinsam mit Betroffenenvertreter Matthias Schwarz ins evangelische Gemeindehaus Zwingel in Dillenburg gekommen, um das zu tun, was in der Präambel des Gewaltpräventionsgesetz der EKHN wie folgt zusammengefasst wird:
„Prävention sexualisierter Gewalt umfasst die Sensibilisierung und Qualifizierung aller haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und Leitungsverantwortlichen auf allen Ebenen kirchlichen Lebens, um Grenzverletzungen zu verhindern.“
„Es ist ein ernstes Thema, aber wir müssen uns diesem Thema widmen“, begrüßte Dekan Andree Best die fast 20 Ehren- und Hauptamtlichen, die sich zum Fachtag angemeldet hatten. Mit einer berührenden Andacht führten Petra Knötzele, Matthias Schwarz und Anette Neff ins Thema ein; es folgte ein betroffen machender Film mit Aussagen von Menschen, denen sexualisierte Gewalt angetan wurde. Matthias Schwarz, der in der Evangelischen Kirche sexuellen Missbrauch erlebt hat, verlieh den Aussagen des Filmes ein Gesicht:
„Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn Menschen in meinem Umfeld besser hingeschaut und nachgefragt hätten“, sagte Matthias Schwarz. Er habe noch heute mit den Folgen des Geschehenen zu kämpfen. Es reiche ein Wandbild im Kirchenraum, eine ungewollte Berührung, ein Satz, ein Wort, das Handreichen nach dem Abendmahl - und das schlimme gefühl sei wieder da.
Albträume, in denen „die schlimmen Sachen“ wieder auftauchen, Beziehungen zu führen „ist schwer bis unmöglich“; Flashbacks, Erinnerungslücken und Phasen der Spaltung (Dissoziation) bestimmen das Leben von Betroffenen wie Matthias Schwarz. Den Glauben an Gott habe er nicht verloren, „aber ich kann nicht mehr in die Kirche an meinem Heimatort gehen. Das Wandbild dort mit einer dunklen Gerichtsszene im Kirchenraum kann ich nicht ertragen“. Die Kirche als Institution hat versagt.
Nach einem Input mit Informationen aus der 2024 veröffentlichten „ForuM“-Studie (Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland) und über den Stand von Aufarbeitung und Präventions-Maßnahmen in der EKHN beschäftigten die Teilnehmenden des Fachtags sich in Tischgruppen mit Fallbeispielen. Der anschließende Austausch mit den Expertinnen der EKHN-eigenen Fachstelle führten einmal mehr vor Augen, wie wichtig Schulungen sind, um Übergriffe erkennen und angemessen reagieren zu können. Und wie wichtig es ist, sich Rat und Hilfe suchen zu können – bei der Fachstelle in Darmstadt. Barbara Maage, die Präventionsbeauftragte im Dekanat an der Dill, bietet auch weiterhin zweimal im Jahr Basisschulungen für Gemeinden an.
sowie auf Dekanatsebene bei Dekanatsjugendreferentin Barbara Maage, Dekanatsbeauftragte für Gewaltprävention
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Barbara Maage, die zum Thema „Sexualisierte Gewalt“ auch zwei Mal im Jahr Zoom-Schulungen anbietet, aber auch persönlich in die Gemeinden kommt, um zu beraten, erinnerte die Teilnehmenden aus dem Dekanat einmal mehr daran, dass jede Kirchengemeinde verpflichtet ist, ein eigenes Schutzkonzept aufzulegen. Details sind im Gewalt-Präventionskonzept des Dekanats geregelt:
„Wir müssen das Thema ,Sexualisierte Gewalt‘ immer wieder aufgreifen“, bedankte sich Dekan Andree Best in seinem Schlusswort für die „große Runde der Teilnehmenden“ sowie die Arbeit der EKHN-Fachstelle und der Dekanatsbeauftragten: „Bei unserer Arbeit mit Schutzbefohlenen müssen wir alle besonders gut hinschauen.“
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