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Martin Luther

Interview: Dekan Becher über Martin Luther und die Juden

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Martin Luther ist in allen Medien. Weniger präsent und auch weniger bekannt sind seine judenfeindlichen Schriften. Der Gießener Dekan Frank-Tilo Becher redet über diese Schattenseiten Martin Luthers.

Welches Erbe hat Martin Luther uns hinterlassen?

Becher: Er hat den Einzelnen in die Freiheit vor und mit Gott geführt. Für mich ist der Freiheitsbegriff von zentraler Bedeutung, um Luther zu verstehen. Er ist aus dieser eigenen Angsterfahrung herausgetreten. Es ist zwar ein Kunstwort, aber die 'Entängstigung' seiner Zeit und der Menschen hat er uns mitgegeben. Das ist auch die Frage, die er mir bis heute mitgibt. Was sind die existenziellen Ängste von uns und unserer Zeit? Und welche befreiende Antwort hat der Glaube? Das ist ein kompletter Perspektivwechsel gewesen.

Nun war Luther nicht nur Reformator und Bibelübersetzer. 1543 erschien seine Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Darin hetzt er in schlimmster Weise gegen Juden.

Becher: Es ist ein schwer auszuhaltender Zwiespalt, dass er an einer Stelle den Zeitgeist überholt hat, und an anderer Stelle in seiner Zeit verhaftet geblieben ist. Beides gehört zu dieser Person dazu, und man wird der Sache nur gerecht, wenn man auch beide Seiten betrachtet. Was für mich, unsere Gemeinden und die Kirche wichtig ist, ist diese entängstigende Kraft.

Also muss man seine Schriften vor allem im historischen Kontext betrachten? Waren solche Ansichten die Norm?

Becher: Das war der gedankliche 'Mainstream'. Etwa der Antijudaismus.  Allerdings muss man da sorgfältig sein. Wir reden bei Luther von Antijudaismus. Das ist eine theologische Distanzierung, die nicht wie der Antisemitismus rassistisch begründet ist. Später hatte das aber natürlich wirkungsgeschichtlich die verheerenden Folgen, dass Antisemiten und Faschisten sich dieser Stellen bedienen konnten. Die Kirche muss - und das tut sie auch - alle Versäumnisse und Schuld bekennen.

Was waren die theologischen Gründe für Luthers Haltung?

Becher: Wenn man sorgfältig hinsieht bei Luther, entdeckt man, dass er in den Frühschriften die Perspektive hatte, dass seine Erkenntnis den Juden die Tür zum Evangelium öffnen wird. Daraus ist diese Idee der Judenmission erwachsen. Aus der Enttäuschung darüber, dass das nicht geschehen ist, ist das entstanden, was in seinen hasserfüllten Schriften zu lesen ist. Was man historisch dazu sagen muss, ist, dass wir unseren modernen Toleranzbegriff bei Luther an keiner Stelle finden. Ein dialogisches Miteinander taucht weder gegenüber Juden, noch Türken, noch Katholiken oder Bauern auf. Grundsätzlich ist er derjenige, der seine Position belehrend vertritt.

Wie steht es um die kritische Aufarbeitung heute?

Becher: In unserer Kirche und in unseren Gemeinden gibt es einen differenzierten Blick auf Luther. Auch die Kirche hat sich natürlich mit den Schattenseiten dieser Person und seinen Äußerungen auseinandergesetzt. Das ist ein Prozess. Die kritische Aufarbeitung hat erst im 20. Jahrhundert begonnen.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat in die Grundartikel, sozusagen das Grundgesetz unserer Kirche, einen Satz hineingeschrieben, der Luther widerspricht. Da heißt es: "Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein."

Das ist der Boden, auf dem wir, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, stehen. Bei diesem Satz ist man sofort in einem kritischen Gespräch mit dem, was Luther in seinen Schriften sagt. An dieser Stelle ist Luther ein Mensch, der dem mittelalterlichen Weltbild in verhängnisvoller Weise verhaftet geblieben ist.

Das Gespräch mit Dekan Becher führte Harun Atmaca, Gießener Anzeiger

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