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Autorenlesung

Islam zwischen Radikalisierung und Resignation

kfEinen Input für den interreligiösen Dialog lieferte Dr. Michael Blume (re.) im Rahmen seines Vortrags im evangelischen Familienzentrum Heusenstamm. Rund 70 Christen, Muslime und Nichtreligiöse diskutierten anschließend rege mit dem Autor und machten auch von der Möglichkeit Gebrauch, sein Buch "Islam in der Krise" signiert zu erwerben.

Vor allem mit seinem im Jahr 2017 erschienenen Buch „Islam in der Krise - eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ hat der Religionswissenschaftler und Autor Dr. Michael Blume für viel Gesprächsbedarf nicht nur im interreligiösen Dialog gesorgt. "Woher kommt dieser Befund?", fragte sich die ökumenische Initiative „Religionen im Gespräch“, die Blume zu Vortrag und Gespräch Mitte November nach Heusenstamm eingeladen hatte.

Als Ursachen für Radikalisierung des Islam einerseits und Resignation bei vielen Muslimen andererseits benannte Dr. Blume in dem Gespräch mit Christen und Muslimen fehlende Bildungschancen für Jungen und gerade auch Mädchen sowie den Gas- und Öldurst der westlichen Welt. Eingeladen hatten zu der Abendveranstaltung neben der örtlichen Initiative auch das Evangelische Dekanat Rodgau und das Projekt „ProPrävention“ des Kreises Offenbach.

Vor allem mit seinem im Jahr 2017 erschienenen Buch „Islam in der Krise - eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ hatte der Autor für viel Gesprächsbedarf nicht nur im interreligiösen Dialog gesorgt. „Der Islam scheint selbstbewusst zu expandieren“, heißt es im Klappentext. „Doch das Gegenteil ist der Fall:“ Blume erklärt das Szenario als Symptom einer weltweiten tiefen Krise des Islam. Er zeigt: Noch nicht einmal für Deutschland lässt sich klar sagen, wie viele Muslime es tatsächlich noch gibt.

„Die Islamisierung des Abendlands fällt aus“

Das beginnt schon bei der Statistik: Während für christliche Konfessionen einzig die formale Kirchenmitgliedschaft über die Zugehörigkeit zum Christentum entscheidet, geht man bei Menschen, die aus muslimischen Familien stammen, „automatisch“ davon aus, dass sie mutmaßlich selbst muslimischen Glaubens sind. „Dabei gehören in Deutschland gerade einmal 20 Prozent dieser Menschen tatsächlich einer Moscheegemeinde an.“

Michael Blume, der auch als Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung arbeitet, verweist zudem auf massive Säkularisierungsprozesse in der islamischen Welt. Er benennt, was die einstige Hochkultur in Krisen und Kriege stürzen ließ und bietet Ansätze, die Krise des Islam und die Konflikte zwischen den Kulturen besser zu verstehen und gemeinsam zu neuen Lösungswegen zu kommen.

Auch der Mär vom „Geburtendschihad“, also dem Vorwurf, hinter einer angeblich überdurchschnittlich hohen Fortpflanzungsrate bei Muslimen stände ein Streben nach Weltherrschaft, tritt Dr. Blume mit nüchternen Zahlen entgegen: „Wie in allen modernen Gesellschaftsformen, in denen Entwicklung und Verstädterung einsetzen, bricht auch in den meisten muslimisch geprägten Ländern die Geburtenrate drastisch ein. So leid es mir für die Verschwörungstheoretiker tut“, sagt Dr. Blume ironisch: „Die Islamisierung des Abendlands fällt aus.“

Zwar gebe es tatsächlich höhere Geburtenraten in religiösen muslimischen Familien - allerdings ebenso auch bei hochreligiösen Juden und Christen. „Das ist bei frommen Muslimen nicht anders als bei den christlichen Amish People in den USA oder den jüdisch-orthodoxen Haridim in Israel.“

Sowohl im Rahmen seiner Forschung und Lehre, als auch auf seinen Reisen hört und sieht Michael Blume nicht viel von einem selbstbewussten Islam. Vielmehr seien die Menschen verunsichert, ratlos und „haben den Rand voll von Fundamentalisten. Viele Muslime fragen sich, was aus ihrer einstmals großen und friedlichen Kultur geworden ist“, und manche davon gingen - oftmals wegen fehlender Bildungschancen - simplen Verschwörungstheorien auf den Leim. Bei ungebildeten Menschen sorge das für Radikalisierung und Hass - auf Israel und das Judentum, die USA oder die ganze westliche Welt.

Dabei sei es, so Blumes These, zum Teil die westliche Welt selbst, die vor allem mit ihrer internationalen Energie- und Wirtschaftspolitik die Unruhe im Nahen und Mittleren Osten immer wieder anheize. „Seit den Zeiten des Kolonialismus nimmt sich jeder, was er will; Muslime waren und sind dem oftmals ausgeliefert“, sagt der Religionswissenschaftler. Früher wegen Kolonialwaren und Rohstoffen, heute hauptsächlich zur Sicherung der Öl- und Gaszufuhr in den Westen. „Solange wir Öl und Gas verbrauchen, können wir Frieden da unten vergessen.“

Als Ursache für Radikalisierung einerseits und Resignation andererseits sieht Michael Blume eine gefährliche Mischung aus fehlender Bildung und den Gas- und Öldurst der westlichen Welt:

Bildung als wichtigstes Erbe des Westens

Seit Sultan Bayezid der Zweite Ende des 15. Jahrhundert den aufkommenden Buchdruck in seinem Herrschaftsbereich verboten hat, sei über die Jahrhunderte ein Bildungsrückstand gewachsen, „der sich bis heute nicht geschlossen hat. Während in Europa Bildung als wichtigstes Erbe von Generation zu Generation weitergegeben wurde“, sei die frühere Kultur der Gelehrsamkeit aufs Abstellgleis geraten. „Um 1800 konnte die Hälfte der Menschen, die im deutschsprachigen Raum lebten, lesen und schreiben, im Osmanischen Reich gerade einmal zwei Prozent.“ Nicht von ungefähr bedeute der Name der nigerianischen Terrorgruppe ‚Boko Haram‘ übersetzt ‚Westliche Bildung ist verboten‘. Und nicht von ungefähr sei eines der größten Feindbilder radikaler Fundamentalisten die pakistanische Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die mit dem Zitat „Diese Terroristen haben Angst vor einem Mädchen mit einem Stift.“ berühmt wurde.

Gas und Öl sichern Diktaturen

Dabei verfestigt der Reichtum an Öl und Gas in vielen Ländern des Mittleren Ostens diktatorische Machtstrukturen und damit den Status quo der Lebensbedingungen. Statt Petrodollars in Bildung von Jungen und Mädchen zu investieren, gewährten diese Staaten ihren Bürgern Steuerfreiheit und erkauften sich damit den Verzicht auf politische Beteiligung. „Solche Staaten wollen nicht, dass Menschen gut gebildet und ausgebildet sind, weil diese Menschen die Macht in Frage stellen könnten. Und ein Teil unseres (westlichen) Wohlstands rührt daher, dass wir mit unserer Wirtschaftspolitik sowohl das Weltklima als auch das Klima zwischen den Religionen vergiften“.

Was können wir tun?

Lösungsansätze sieht Dr. Michael Blume in den internationalen wirtschaftlichen Beziehungen ebenso wie in der intellektuellen Entwicklung jedes und jeder Einzelnen weltweit:

„Ölverbrauch reduzieren“ steht auf Blumes Liste ganz oben: „Wir sind Einwohner*innen einer Welt und haben Verantwortung füreinander.“ Bildung, vielfältiges Lernen und die Förderung von Familien seien ebenfalls unverzichtbar. Nicht nur den Dialog der Religionen, sondern auch den Kontakt zwischen gläubigen und nichtreligiösen Menschen weltweit zu fördern und zivilgesellschaftliches Engagement in religiösen Gemeinden, aber auch in Vereinen und privaten Initiativen  zu stärken, sei ein weiterer Ansatz. Und „wenn es eine Chance gibt, aus der Krise zu kommen, dann, indem wir die Bildung von Mädchen und Frauen fördern“.

Zur Person:

Dr. Michael Blume, evangelisch und verheiratet mit einer Muslimin, ist promovierter Religionswissenschaftler und Referatsleiter für nichtchristliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg. 2014 übernahm er im Auftrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Rahmen seiner Tätigkeit die Leitung der Mission „Sonderkontingent Nordirak“. Dabei war er verantwortlich, 1100 besonders schutzbedürftige, hauptsächlich jesidische Frauen und Mädchen aus dem Nordirak nach Deutschland zu bringen, unter ihnen auch die spätere UN-Botschafterin Nadia Murad, die 2018 gemeinsam mit dem Arzt Denis Mukwege den Friedensnobelpreis erhält. Zudem arbeitet Blume als Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung in Stuttgart. Er forscht, lehrt und veröffentlicht zu Fragen des christlich-islamischen Dialogs in Deutschland sowie zum Zusammenhang von Religion und Demografie sowie zur Entwicklung der Neurotheologie. 

 

Zum Weitermachen
Die Gruppe „Religionen im Gespräch“ trifft sich übrigens am dritten Donnerstag jedes Monats um 19:30 Uhr im Evangelischen Familienzentrum Heusenstamm an der Leibnizstraße 57. „Wir wollen dort weiterhin miteinander reden statt übereinander“, sagt Pfarrer Sven Sabary, der auch als Ansprechpartner für Interessierte zur Verfügung steht, über die ökumenische Initiative: Telefon (06104) 643885.

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