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Experiment

Sie nennen sich „Die Chaoten auf Zeit“

sru/DekanatLars, Paulina und Tatjana in der Küche im Erdgeschoss. Sie sind drei von sieben Jugendlichen, die für knapp eine Woche in die "WG auf Zeit" im Reichelsheimer Pfarrhaus eingezogen sind.

Ein leerstehendes Pfarrhaus, sieben Jugendliche, zwei Teamleitungen und neun Matratzen. Das war das Setting für die „WG auf Zeit“ in Reichelsheim in der letzten Schulwoche – angezettelt von Gemeindepädagogin Ilka Staudt.

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Lars spült, Johanna trocknet ab. Aus der Bluetooth-Box kommt loungige Musik. Auf dem Thekentisch stehen Obst und Capri-Sonne. Im Ofen backen Brötchen auf. „Manchmal ist es ein bisschen chaotisch“, sagen die beiden 16-Jährigen. „Manche sind ein bisschen unordentlich“, ergänzt Paulina (16), die gerade in die Küche gekommen ist. Johanna muss los, zum Kieferorthopäden. Wenig später kommt Tatjana in die Küche und Lars muss weg. Christa ist inzwischen auch da und hat sich auf ihr Zimmer zurückgezogen.

Mit Taschen und Koffern, Bettwäsche, Matratzen, Kissen, Sitzsäcken, Teppich und kistenweise Geschirr und Lebensmittel sind am Sonntag sieben junge Leute ins leerstehende Pfarrhaus mitten in Reichelsheim gezogen. Als erstes hätten sie die Sofakissen und Sitzsäcke nach oben gebracht, erzählen Lars und Johanna, und aus der früheren Küche mit dem schwarz-weiß gemusterten Fliesenboden ein provisorisches Wohnzimmer gemacht. 

Früher Donnerstagnachmittag, Stippvisite bei der „WG auf Zeit” in Reichelsheim. 

Zu cooles Projekt, um Nein zu sagen
Im Büro neben der Küche sitzen Gemeindepädagogin Ilka Staudt und Marius Hürtgen, der für das Evangelische Dekanat Vorderer Odenwald 22 Jahre lang ehrenamtlich Jugendfreizeiten geleitet hat, und arbeiten. „Eigentlich wollte ich Nein sagen, aber das Projekt war zu cool, um Nein zu sagen.“ So hat er kurzerhand sein Homeoffice nach Reichelsheim verlegt und betreut die WG ehrenamtlich mit. Ilka schreibt Dankeskarten für den Kirchenvorstand und alle, die mitgeholfen haben. In der WG ist rund um die Uhr jemand da, aber für Marius Hürtgen und Ilka Staudt ist es etwas ganz anderes als die Freizeitenarbeit. Bei Jugendfreizeiten gibt es eine feste Struktur und ein Programm, hier geht es darum, gerade nicht anzuleiten, sondern die jungen Leute machen zu lassen. An einem Tag hat Ilka Zettel im Haus verteilt, auf denen zum Beispiel stand: „Ich würde mich über einen Lappen freuen – Gruß von der Küche“. „Gestern Nachmittag war die Küche blitzblank“, sagt sie.

Eine Erinnerung schaffen, die bleibt
Im Obergeschoss haben die Mädchen mit ihren Matratzen zwei Zimmer in Schlafzimmer verwandelt, Lars hat ein eigenes Zimmer, ebenso Betreuer Marius. Die leere Küche wurde zum Wohnzimmer. Oben ist auch das Bad. Im Erdgeschoss befinden sich die Küche und die Büros von Gemeindepädagogin Ilka Staudt sowie von GenerationenNetz-Koordinatorin Dr. Waltraud Frassine. Der Besprechungsraum wurde kurzerhand zum Esszimmer umfunktioniert, ein leeres Zimmer wurde Ilkas Schlafzimmer. Im Garten stehen Biertische und -bänke. Hier verbringen sie die Abende. Draußen am Tor zum Grundstück hängt das Banner der Evangelischen Jugend.

Seit dem Auszug von Pfarrerin Erika Häring steht das Pfarrhaus leer. Ideal für eine WG auf Zeit, dachte sich Ilka Staudt und setzte die Idee mit Rückenwind aus dem Kirchenvorstand und den Kirchengemeinden im Nachbarschaftsraum in die Tat um. „Wir wollten das Pfarrhaus nochmal nutzen, bevor es verkauft wird, und jungen Menschen neue Erfahrungen ermöglichen – im Alltag ohne die Eltern zu sein und sich selbst organisieren zu müssen“, sagt die Gemeindepädagogin. „Idealerweise wird die Wohnwoche eine Schlüsselerinnerung, also ein Moment im Leben, den man in Erinnerung behält, weil es etwas völlig anderes ist.“

Essen nach Absprache
Die Gruppe war schnell beisammen, die meisten kommen aus Brensbach und kannten sich aus der Konfirmandenzeit und von der Juleica-Schulung. Weitere kamen dazu. Der Kirchenvorstand bereitete das Pfarrhaus vor und mähte das Grundstück ab, dann ging es auch schon los. Am Vormittag gehen die jungen Leute in die Georg-August-Zinn-Schule. Gemeinsam dorthin zu laufen ist schon was Besonderes. Einzig Johanna ist nach dem Realschulabschluss schon ein paar Tage früher fertig und geht nicht mehr in die Schule. Am Nachmittag treffen sie sich mit Freunden, gehen zum Musikunterricht oder sie unternehmen gemeinsam etwas wie Schwimmbad oder Eis essen. Die Mädchen waren nach Absprache darüber, was es zu essen geben soll, in unterschiedlichen Besetzungen einkaufen. Sonntags wurde gegrillt, am Montag gab es Nudeln und Pesto, am Dienstag Koreanisch und am Mittwoch nach den Snacks beim Sommerfest des MichelChors im Garten noch einen nächtlichen Besuch bei McDonalds in Michelstadt – ein Highlight. Verständigt haben sich die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zumeist in der WhatsApp-Gruppe „Die Chaoten auf Zeit“. Abends haben alle zusammengesessen und Karaoke gesungen, eine Wasserschlacht gemacht oder Tabu gespielt. Lachflashs inklusive.

Was hat sie gereizt? „Die Leute und das Ganze mal ausprobieren“, sagt Tatjana (16), „ich bin traurig, wenn wir morgen wieder ausziehen.“ „Das Besondere für die Jugendlichen ist, dass ich eine WG austesten kann, ohne meinen Safe-Room zu verlieren“, sagt Marius Hürtgen. „Es ist ein richtig cooles Projekt und für die Jugendlichen eine gute Erfahrung, sie lernen Selbstständigkeit und Freiheit“, sagt Ilka Staudt.

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