Rituale
Sterben in Zeiten von Corona
picture alliance/Marcel Kusch/dpa
26.03.2020
esz
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Die haben mich nicht mehr lieb«, sagt die alte Dame. Die Patientin der Langener Asklepios-Klinik ist davon überzeugt, dass ihre Familie sich von ihr abgewandt hat. Krankenhausseelsorgerin Annette Röder versichert ihr, dass alle nahen Angehörigen sie lieb haben. Nur dürften sie das Krankenhaus nicht mehr betreten – wegen der Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus. »Innerhalb von sieben Tagen hat sich unsere Arbeit komplett verändert«, sagt Röder.
Sie ist stabil, aber das zerreißt sie
Besorgte Töchter und Söhne rufen die Seelsorgerin an, um nach Mutter oder Vater zu fragen. Sie eilt dann ans Bett, um sich nach deren Zustand zu erkundigen. »Wir müssen kontinuierlich abwägen zwischen Nähe und Distanz«, erklärt die Theologin. »Ich bin sehr stabil, aber das zerreißt auch mich.« Ihr hülfe der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, denn »sie kennen meine Situation«. Was sie noch erdet? »Meine Familie und die Arbeit im Garten.«
Neue Formen des Abschiednehmens
Sie muss fit bleiben, denn »wir Seelsorger sind dafür da, Situationen auszuhalten, anderen Halt zu geben«. Was sie umtreibt: Sie können nicht so viel Trost ausschütten, wie die Menschen bräuchten. Gerade erst hat sie ein Gespräch mit einem Bestatter geführt. Die Beerdigung einer alten Dame, die auch Annette Röder kannte, wird frühestens in zwei Monaten terminiert werden können. Die Verstorbene hat sich eine große Trauerfeier gewünscht. Im Moment ist das nicht realisierbar. Die Feiern zum Abschied von den Toten werden anders ablaufen müssen, tun es bereits schon. In kleinem bis kleinstem Kreis, ohne Trauerhalle.
Hunderttausende im Sterben begleiten
»Wie gehen wir damit um, dass sich Formen der Trauer verändern, welche neuen Rituale ersetzen die alten?«, fragt sie. »Wir müssen über Sterbebegleitung und Trauerarbeit in der Pandemie sprechen«, findet auch Thorsten Latzel, Leiter der Evangelischen Akademie Frankfurt. Es sei nach den Erfahrungen in Italien realistisch, »sich darauf einzustellen, dass wir wohl Hunderttausende Menschen im Sterben begleiten und noch viel mehr Menschen in ihrer Trauer stärken müssen. Und das unter extremen Ausnahmebedingungen, die Sterbebegleitung wie Trauerarbeit massiv erschweren werden. Nicht nur die Medizinerinnen und Mediziner, auch die Pfarrerinnen und Pfarrer gehen auf eine Zeit der Grenzbelastung zu«, mahnt er.
Ein Sterben ohne richtigen Abschied
Er fürchtet, dass viele Menschen wegen ihrer Infektion auf Isolierstationen sterben – ohne angemessen oder überhaupt begleitet werden zu können. Zudem werde sich dieses Sterben ohne richtigen Abschied gerade bei älteren Menschen zum Teil nach Wochen oder Monaten ereignen, in denen sie ihre Kinder oder Enkel wegen der kollektiven Quarantäne nicht mehr gesehen haben. Eine große emotionale Belastung auf allen Seiten. Er empfiehlt, Formen des Abschiednehmens über Videotechnik auf Intensivstationen und in Hospizen aufzubauen und kulturell wie geistlich zu gestalten. Andrea Seeger