Zwischenräume (4)
Ungeahnte Nähe
Friederike von Boetticher
15.06.2020
sru
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Von Anke Timmerberg,
Begegne dem, was auf dich zukommt, nicht mit Angst,
sondern mit Hoffnung. Franz von Sales
Plötzlich ist alles anders. Ein kleines Virus, unsichtbar für unsere Augen, legt von heute auf morgen die Gesellschaft lahm, stellt das Leben jedes Einzelnen auf den Kopf und macht auch vor der Reinheimer Kirchengemeinde nicht halt. Gottesdienste, Chorproben, nichts darf mehr stattfinden und auch noch so kurz vor Ostern. So fing es an, als die Pandemie die Welt in den Würgegriff nahm, und es war Kreativität gefragt!
Die Italiener haben es uns vorgemacht und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab den Anstoß, es doch auch bei uns zu versuchen – Balkonsingen. Wenn dann noch vier Kirchenchormitglieder und weitere begeisterte Sängerinnen und Sänger in der direkten Nachbarschaft zuhause sind, dann bedarf es nur noch einer Rundmail und der „Balkonchor“ ist geboren. Allabendlich, immer zur gleichen Zeit, treffen wir (10 Sänger*innen) uns nun schon seit März mit Freude und Begeisterung. Anfangs noch dick eingepackt, mit Dampfwölkchen vor dem Mund, stehen wir inzwischen im T-Shirt auf dem Balkon und genießen die Abendsonne beim Singen.
Die EKD hatte „Der Mond ist aufgegangen“ als gemeinsames Lied vorgeschlagen. Nun kann man aber nicht wochenlang immer nur den Mond aufgehen lassen. Das Gesangbuch und diverse Liederbücher wurden gewälzt, Noten gescannt, per Mail herumgeschickt und Klaus von Boetticher hat uns als erfahrener Chorleiter „organisiert“. Inzwischen hat unser Balkonchor ein beachtliches Repertoire von Kirchen-, Volksliedern und Gospel-Songs und ein paar treue Zuhörer*innen, wie zum Beispiel eine ältere Dame aus dem nahen Seniorenheim, die uns von ihrem Balkon aus sehen und hören kann und mit uns zusammen – nach dem Singen – den „Helden des Alltags“ applaudiert. Wir winken uns immer freundlich zu und hoffen, dass wir die Dame bald näher kennenlernen können.
Die Musik schlägt eine Brücke, schafft eine ungemeine Nähe, wo uns das Virus doch eigentlich Distanz aufzwingt. Noch mehr: Wir Nachbarn lernen uns plötzlich ganz neu kennen. Seit Jahren hören wir im Sommer die Stimmen der anderen, verborgen hinter Kirschbaum und grüner Hecke, wenn wir auf dem Balkon oder im Garten sitzen. Menschen, die wir nur flüchtig kannten, haben nun ein Gesicht bekommen, plötzlich verbindet uns etwas. Da wird erzählt und gelacht, Nachbarschaft erhält einen neuen, viel tieferen Stellenwert.
So wurde dann auch beschlossen, zu Ostern einen gemeinsamen Gartengottesdienst zu feiern, den unsere Prädikantin Iris Zeuner ganz wundervoll gestaltet hat. Jeder in seinem Garten, mit dem gebotenen Abstand, haben wir die Bedeutung der Osterbotschaft in diesen außergewöhnlichen Zeiten auf uns wirken lassen, gemeinsam gebetet und gesungen. Ein Gottesdienst, der tief berührt und eine ungeahnte Nähe und Verbundenheit in Zeiten „sozialer Distanz“ geschaffen hat.
Unsere Geschichte ist sicher nur ein Beispiel, wie diese, durch ein kleines Virus veränderte Welt, Raum für neue Begegnungen und ein stärkeres Miteinander im christlichen Sinne bietet.
Reinheim, 10. Mai 2020