Denkanstoß
Vom Himmel
Margit Binz
20.05.2025
sru
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Wann haben Sie das erste Mal den Himmel wahrgenommen? Die Künstlerin Yoko Ono beschreibt in ihrem Buch „Acorn“ mit kurzen Gedichten und Denkanstößen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg, hungrig und mager, manchmal nur noch auf dem Boden liegen und in den Himmel schauen konnte. In dieser Zeit verliebte sie sich in den Himmel. Wenn alles um sie herum auseinanderfiel, war der Himmel immer für sie da. Er war der einzig konstante Faktor in ihrem Leben, der sich blitzschnell mit der Geschwindigkeit des Lichtes veränderte.
Solange es den Himmel gab, so schreibt sie in ihrem ersten „Sky Piece“, konnte sie das Leben nicht aufgeben. Später stellt sie fest: Der Himmel ist nicht nur über unseren Köpfen, der Himmel erstreckt sich den ganzen Weg hinab bis zur Erde. Jedes Mal wenn wir den Fuß von Boden heben, laufen wir im Himmel. Als Experiment schlägt sie vor: Laufen Sie durch die Stadt oder das Dorf in diesem Bewusstsein. Wie lange sind Sie heute im Himmel gelaufen?
Yoko Ono redet hier über Himmel im physischen und räumlichen Sinne (sky), nicht über einen geistigen Raum oder eine göttliche Sphäre (heaven). Wenn ich sie recht verstehe, ist sie – auch buddhistisch geschult – Materialistin im allerbesten Sinne. Die genaue Wahrnehmung des Himmels und anderer physischer Phänomene formt ihren Geist und führt dazu, über das scheinbar Offensichtliche hinauszusehen und zu gehen. Die Wirklichkeit neu zu sehen, jenseits von Klischees und simplen Konzepten, führt auch dazu, ihr anders zu begegnen, sich anders zu bewegen, anders zu handeln. Dazu regen ihre kurzen Texte an, die teilweise im Geist von paradoxen Zen-Geschichten geschrieben sind.
Auch Jesus von Nazareth – jüdisch geschult – war in den Himmel verliebt und ein Meister im Erzählen teils paradoxer Kurzgeschichten, Gleichnisse genannt. Bei seiner Taufe sah er den Himmel offen und den Geist Gottes wie eine Taube herabkommen. Für ihn war der Himmel schon eher ein geistiger Raum, nicht von dieser Welt, oder eine göttliche Sphäre, in die er mit seiner Himmelfahrt zurückkehrte, aber nicht nur.
Oder wie sollen wir es sonst verstehen, wenn er sagt: „Das Himmelreich ist nahe, das Reich Gottes ist mitten unter euch?“
Margit Binz, Pfarrerin für Ökumene, Evangelisches Dekanat Vorderer Odenwald, margit.binz@ekhn.de