Menümobile menu
Info

von Silke Alves-Christe

Zwischen Trauer und Hoffnung

Weil ich diesen Tiefblick in Jerusalem schreibe, will ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, teilhaben lassen an den Erfahrungen hier: Unter strahlend blauem Himmel mit schon sommerlichen Temperaturen ist der erste Eindruck erstaunlich friedlich. Auf dem Weg durch die Stadt begegnet man aber spätestens alle 100 Meter den Fotos der israelischen Geiseln auf großen Plakaten oder auf Aufklebern an allen Bushaltestellen.

Auf manche Fotos wurde inzwischen geschrieben: „nach Hause zurückgekehrt“ oder aber „seligen Angedenkens“. Im Gespräch kommen viele Israelis spätestens im dritten Satz auf die Geiseln zu sprechen. Deren Schicksal ist für alle hier unerträglich. In diesen Tagen wurde das Purimfest gefeiert, das auf das biblische Buch Esther zurückgeht, und an dem viele sich – ähnlich unserem Karneval – verkleiden. In diesem Jahr haben zahlreiche Kinder sich als Batman verkleidet. Sie wollen damit an den vierjährigen Ariel erinnern, der ein Batman-Fan war, bevor er zusammen mit seinem noch kein Jahr alten Bruder Kfir und seinen Eltern nach Gaza entführt wurde. Dass die beiden kleinen Jungen mit ihrer Mutter getötet wurden und dass statt der Leiche ihrer Mutter zunächst eine unbekannte Leiche an Israel zurückgegeben wurde, hat alle Israelis sehr erregt.

In diesem Gemisch aus Trauer, Wut und Ausgeliefertsein (auf vielen Plakaten, die das Stadtbild prägen, steht: „Wir alle sind Geiseln“ oder „Unser Herz ist gefangen in Gaza“) scheint kein Platz zu sein für das Leid der Bewohner des Gazastreifens. Ob sich das ändern kann, nachdem die letzten lebenden und toten Geiseln übergeben sein werden?

Das Estherbuch der Bibel bezeugt, dass Antisemitismus nicht erst im Mittelalter in Europa begann. Es erzählt von einem geplanten Völkermord an den in Persien lebenden Juden im 3. Jahrhundert vor Christus, vor dem die Königin Esther – selbst Jüdin – ihr Volk retten konnte. Aber es wird dann auch berichtet, wie der persische König den Juden erlaubte, ihre Feinde, die ihnen nach dem Leben trachteten, zu töten. Die schwierige Frage, was das in der aktuellen Bedrohung bedeutet, wird – je nach Gesprächspartner – völlig unterschiedlich beantwortet. Und aus der sicheren Entfernung in Deutschland ist die Perspektive eine ganz andere als hier auf einem Pulverfass sitzend.

Gleich nach dem Purimfest hat die israelische Regierung entschieden, die Hinhaltetaktik der Hamas nicht länger abzuwarten. In Tel Aviv habe ich am Abend nach dem israelischen Militärschlag mehrere Demonstrationen gegen diese Entscheidung gesehen, und auch auf dem Platz der Geiseln haben sich viele Menschen versammelt und haben zusammen mit einem Rabbiner für die Befreiung der verbliebenen Geiseln gebetet, auch mit Worten aus Psalm 121: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“

Auf dem Platz der Geiseln vor dem Tel Aviver Kunstmuseum sind die Tage, ja sogar die Minuten und Sekunden seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 auf einer großen Leinwand aktuell zu verfolgen. Man rechnet nach 528 Tagen noch mit 59 Geiseln, von denen nur 24 noch am Leben sind und sieht ihre Überlebenschance nun noch stärker gefährdet.

Ein Hoffnungsschimmer in all der Aussichtslosigkeit war für mich der Besuch in einer zweisprachigen, jüdisch-arabischen Schule in Beerscheva im Negev. Die Schule, die aus einer Initiative von Eltern entstanden ist, hat sich den Namen Hagar gegeben, nach der Mutter, die dem Abraham seinen ersten Sohn Ismael geboren hat. Wenn die 300 Schülerinnen und Schüler der Hagar-Schule ihr Schulgebäude betreten, kommen sie an diesem Bild vorbei, das an die Außenwand der Schule gemalt wurde. Auf der Weltkugel in Herzform steht auf Hebräisch Schalom, darunter auf Arabisch Salam und schließlich die englische Übersetzung: Peace. Auch die Taube mit dem Olivenzweig im Schnabel ist ein wichtiges Friedenzeichen über den lachend, Hand in Hand spielenden Kindern. 60 % arabische und 40 % jüdische Schülerinnen und Schüler lernen dort zusammen vom Kindergarten an. Auch Eltern, die sich sonst niemals treffen würden, kommen ins Gespräch.

Das gemischte Lehrerkollegium – jeder unterrichtet in seiner Sprache – führt neben dem normalen Unterricht zahlreiche Projekte durch, die das gegenseitige Verständnis, auch das Kennenlernen der unterschiedlichen Feste fördern. Dazu gehörte in diesen Tagen natürlich das Verkleiden zu Purim.

Das unkomplizierte, fröhliche Miteinander der Schülerinnen und Schüler zu beobachten, ist ein starkes Zeichen der Hoffnung. Gegen Unkenntnis und Vorteile, gegen die Angst voreinander, die bis zum Hass führen kann, ist diese Schule eine Oase des Friedens. Von den über 5000 Schulen in Israel werden leider nur 8 nach diesem zweisprachigen, friedensfördernden Konzept betrieben.

to top