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Achtung statt Ächtung

Am Samstag - Frauen im Rotlichtviertel – wer hilft?

Peter KrauchFabienne Zwankhuizen ist einer der Beraterinnen bei „Tamara“Fabienne Zwankhuizen ist eine der Beraterinnen bei „Tamara“

Direkt an den Frankfurter Hauptbahnhof grenzt eines der Rotlichtviertel in Frankfurt am Main. Befremdlich für manche Passantin oder manchen Passanten. Die Mitarbeitenden der evangelischen Beratungsstelle „Tamara“ kennen die Geschichten, Sorgen und Nöte der Frauen, die in Bordellen und auf dem Straßenstrich arbeiten.

Wer als Reisender vom Frankfurter Hauptbahnhof aus zu Fuß die Stadt erkunden möchte, bemerkt schnell: In der Umgebung, rund um die Taunusstraße, liegt das „Rotlichtviertel“. Die Geschichten und Nöte der Frauen, die sich in den Zimmern der Bordelle prostituieren, kennt kaum jemand, kaum jemand fragt nach. „Es gibt keine andere Berufsgruppe, die allein aufgrund ihrer Tätigkeit so viel Verachtung und Diskriminierung erfährt wie die Prostitiution“, schreibt das Diakonische Werk in Frankfurt am Main auf seiner Website. Doch es gibt die Mitarbeitenden von Tamara, einer evangelischen Beratungsstelle für Prostituierte, die den Frauen Beratung und Unterstützung anbietet. „Achtung statt Ächtung“, lautet das Motto. Rund 600 Kontakte haben die zwei Mitarbeiterinnen dort pro Jahr, auch wenn nicht jeder Kontakt in einem längeren Beratungsprozess endet. Eine von ihnen ist die Diplom-Sozialpädagogin Fabienne Zwankhuizen. EKHN-Reporter Peter Christian Krauch hat mir ihr über die Situation der Prostituierten und Unterstützungsmöglichkeiten gesprochen.

Das Rotlichtmilieu am Hauptbahnhof fällt auf. Wie nehmen Sie das wahr?

Fabienne Zwankhuizen: Dort gibt es in der Umgebung die ganzen Laufhäuser, die Bordelle. Dann gibt es auch noch einen Straßenstrich, obwohl das Bahnhofsviertel ein Sperrgebiet ist auf den Bürgersteigen und den Straßen. Aber natürlich stehen da Frauen und versuchen, einen Freier abzugreifen, weil die Mieten zu hoch sind.

Wie gefährlich ist Prostitution im Bahnhofsviertel? 

Fabienne Zwankhuizen: Jede Frau hat einen Notknopf in ihrem Zimmer. Wenn sie den drückt, kommt sofort ein Mitarbeiter. Deswegen gibt es sehr oft Anzeigen wegen Körperverletzung, diese Sicherheitsinfrastruktur gibt es in jedem Bordell, auch in den kleineren Häusern. Es ist nach wie vor sicherer in einem Bordell zu arbeiten als auf dem Strich. Aber dort werden hohe Mieten verlangt.

Wie gehe ich damit um, wenn ich als Passant eine Prostituierte sehe – und was ist, wenn ich helfen will?

Fabienne Zwankhuizen: Das Wichtigste ist, dass Sie diesen Frauen mit Respekt begegnen, wenn Sie sie treffen. Und Sie können sich an uns wenden, wenn sie konkret jemanden angetroffen haben.

Warum landen Frauen in der Prostitution?

Fabienne Zwankhuizen: Man kann das nicht pauschalisieren. Eine Frau ist beispielsweise mit einem Mann zusammen, der sehr viele Schulden hat. Frauen sehen sich dann als Krisenmanagerin und fühlen sich verantwortlich, die Familie und Beziehung zu erhalten und zu gestalten. Sie gehen anschaffen, um die Schulden zu begleichen. Dann gibt es Frauen, die einen Widerwillen gegen Sozialleistungen haben. Übrigens ist es sehr oft der Fall, dass Frauen keine staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen, sondern autark sein wollen. Sie brauchen in der Prostitution keine Zeugnisse, keine Ausbildung und: Arbeitsplätze gibt es in diesem Bereich in Frankfurt genug. So entsteht das oft. Viele sagen: ‚Wenn eine Frau diese und jene Biografie hat, dann landet sie in der Prostitution’ – das können wir so nicht bestätigen. Es gibt keinen klassischen Werdegang.

Ich weiß, dass Frauen auch oft freiwillig das Geld den Männern geben, auch Männern, mit denen sie in einer Beziehung stehen. Dann lehnen sich die Männer gerne mal nach hinten und die Frau geht anschaffen. Das gibt es ganz oft, dass Frauen ihre Männer finanzieren.

Welche Probleme haben die Frauen?

Fabienne Zwankhuizen: Freier versuchen oft, Preisdumping zu betreiben und Frauen damit untereinander auszuspielen. Frauen sowie Bordellmitarbeiter berichten regelmäßig über gewalttätige Übergriffe seitens der Freier. Entweder wollen sie das vereinbarte Geld nicht zahlen, sind mit den Gegenleistungen nicht zufrieden oder sie sind betrunken oder unter Drogeneinfluss. Über Gewalterfahrungen kann fast jede Frau in der Prostitution berichten.

Was sind aus Ihrer Sicht in der sozialen Arbeit die größten Probleme?

Fabienne Zwankhuizen: Bei den Frauen aus Osteuropa begegnet mir fast immer großes Unwissen über alles Körperliche, weibliche Vorgänge, Gesundheit allgemein. Man nimmt dann bei Symptomen lieber Salben, Lotionen oder macht Waschungen. Es ist erschreckend. Manchmal kennen sich diese jungen Frauen noch nicht einmal in der Schwangerschaftsverhütung aus und sind komplett desinteressiert. Wir leiten diese Damen auch oft an das Gesundheitsamt weiter, wo es eine rumänische Sozialarbeiterin gibt, damit sie sich grundlegend informieren, denn: Wenn ich in der Prostitution arbeite, ist mein Körper mein Kapital. Wenn ich ihn nicht schütze, dann bin ich irgendwann am Ende.

Das Verhalten vieler Frauen ist absolut leichtsinnig. Ich bin immer wieder richtig erschrocken. Die meisten sind nicht einmal krankenversichert.

Wie kann die Lebenssituation dieser Frauen aussehen?

Fabienne Zwankhuizen: Ich hatte letztens eine 27-jährige deutsche Frau hier, die seit zehn Jahren anschafft. Sie hat sich richtig heruntergewirtschaftet. 100.000 Euro Schulden, keine Krankenversicherung, keine Meldeadresse, keine Steuern gezahlt – das ist erschreckend. Sie lebt und schläft in ihrem Bordellzimmer, es gibt nur noch diesen elendigen Kreislauf in diesem kleinen Zimmer. Sie müsste Ihre Unterlagen für eine Schuldnerberatung mitbringen – da hatte sie gar nichts, weil sie schon lange keine Meldeadresse mehr hat und sie entsprechend keiner anschreiben kann. Sie sagte also, sie hätte 100.000 Euro Schulden, aber in Wahrheit wird das viel höher sein. Ein weiteres, großes Problem in der Prostitution ist nach wie vor die fehlende Berufsidentität.

Welche Perspektiven hat diese Frau?

Fabienne Zwankhuizen: Ich weiß gar nicht, ob die noch ein zweites Mal kommt. Sie hätte sich eigentlich schon längst melden müssen. Diese Frau müsste aus den Strukturen dieses Milieus aussteigen und das ist das schwerste.

Was kann ich mir unter der Beratungsstelle „Tamara“ vorstellen?

Fabienne Zwankhuizen: Tamara versucht Ansprechpartnerin für Betroffene aus dem gesamten Spektrum der Prostitution zu sein. Tamara ist eine Beratungsstelle für Frauen, die in der Prostitution arbeiten, für Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen und für Frauen, die sich überlegen, in die Prostitution einzusteigen. Wir beraten auch Freier sowie Mütter, deren Töchter anschaffen gehen: Wir beraten rund um die Prostitution und deren Akteure, aber unser Hauptfokus sind die Frauen.

Wann kommt eine Prostituierte freiwillig zu Ihnen?

Fabienne Zwankhuizen: Meistens, wenn es bei den Frauen richtig brennt, wenn es gar nicht mehr weitergeht, wenn sie hoch verschuldet sind oder schlimm erkrank sind. Viele schwangere Frauen arbeiten bis in den achten Monat und dann kommen sie erst zu uns, das haben wir alles schon erlebt.

Sie sagten, dass auch manche Mütter der Prostituierten zu Ihnen Kontakt aufnehmen?

Fabienne Zwankhuizen: Das meiste sind Mütter, die ganz klar Kenntnis über die Tätigkeit der Tochter haben. Was wir dann versuchen, ist der Mutter klarzumachen: Das einzige, was sie für ihre Tochter tun kann, ist ihr klar zu machen, dass sie sich schützen soll und auf sich aufpassen soll. Dass sie in abgesicherten Einrichtungen oder Escort-Services arbeitet. Es ist nun einmal eine Entscheidung ihrer Tochter. Unsere Visitenkarte geben ihr wir natürlich mit, wenn die Tochter irgendwann einmal Probleme bekommen sollte.

Es gibt aber auch Freier, die bei uns anrufen und sich verliebt haben. Manchmal gibt es die Kombination, dass sich beide ineinander verlieben. Das ist aber natürlich nicht oft der Fall.

Ist es in Ordnung, dass Frauen in der Prostitution arbeiten?

Fabienne Zwankhuizen: Tamara hat sich zur Aufgabe gemacht, über Prostitution aufzuklären, Menschen zu sensibilisieren und Vorurteile abzubauen. Wir haben einen sehr prostitutions-akzeptierenden Ansatz. Wir sagen: Es ist in Ordnung, dass eine Frau diesen Job macht. Aber wir wollen, dass sie ihn richtig macht, wir wollen sie professionalisieren. Wir wollen sie über Rechte und Pflichten aufklären, wir möchten sie immer wieder dafür sensibilisieren, dass sie innere und äußere Grenzen beachten muss, sonst wird sie krank. 

Ihr Leitbild lautet „Achtung statt Ächtung“ – was bedeutet das konkret?

Fabienne Zwankhuizen: Wir haben einen riesen Respekt vor diesen Frauen. Das sind keine Personen für uns, die sich moralisch unanständig verhalten. Tamara wünscht sich, dass eine Frau bewusst und differenziert denkt und nicht sagt, sie verkauft ihren Körper, sondern sie verkauft eine sexuelle Dienstleistung. Sie setzt ihren Körper ein, das ist sozusagen ihr Kapital.

Bedeutet dass, dass Sie die Frauen bei ihrem Einstieg, Ausstieg und während der Arbeit begleiten?

Fabienne Zwankhuizen: Wenn wir diesen Ansatz nicht hätten, wären wir nicht glaubwürdig. Wir können nicht nur Frauen beraten, die aussteigen wollen und den Rest nach Hause schicken. Sonst würden diese Frauen sagen, dass wir nur eine Tendenzberatung seien, dass wir etwas Wertendes mit unserem Handeln verbinden – was wir nicht tun. Immer mehr junge Frauen gehen in die Prostitution, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Wir haben diese Frauen dann informiert, aufgeklärt und ihnen ihre meist falschen Vorstellungen genommen, beispielsweise, dass sie viel Geld verdienen und tolle Männer treffen würden. Viele Frauen sind nach der Beratung nicht in die Prostitution gegangen, weil wir sie über die Realitäten dieser Tätigkeit aufgeklärt haben.

Wie hat sich die Arbeit von Tamara entwickelt?

Fabienne Zwankhuizen: Wir haben vor 30 Jahren angefangen als Beratungsstelle für deutschsprachige Prostituierte. Wir haben nach der EU-Öffnung von Rumänien und Bulgarien gemerkt, dass wir uns nicht mehr auf deutschsprachige Frauen beschränken dürfen. Jetzt haben wir zwei Dolmetscherinnen. Unser Streetwork sieht nur noch so aus, dass eine von uns mit einer Dolmetscherin geht. Meine Kollegin und ich sprechen keine osteuropäischen Sprachen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass Männer zur Prostituierten gehen?

Fabienne Zwankhuizen: Wir wollen nichts beschönigen, weder die Arbeit noch das Verhalten von Freiern. Aber wir wollen es nicht pathologisieren. Es gibt auch viele Freier, die uns anrufen und sich Sorgen machen. Und wenn ich diese Männer erst einmal anklage, warum sie überhaupt in ein Bordell gehen, dann wären wir nicht mehr vertrauenswürdig. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes akzeptiere ich es, dass ein Mann zu einer Prostituierten geht.

Was fordern Sie von Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft?

Fabienne Zwankhuizen: Ich könnte jetzt sofort sagen: mehr Beratungsstellen, bessere Finanzierung von Dolmetscherinnen und so weiter. Das wichtigste ist aber, dass sich das Bewusstsein der Frauen verändert. Prostitution muss eine bewusste Entscheidung sein, die mit Rechten und Pflichten, auch Selbstschutzpflichten verbunden ist.

Ich hatte eine Frau in der Beratung, die ihre Kinder im Kindergarten hatte. Wenn sie sonst arbeiten musste, hatte sie immer jemanden vorbildlich organisiert, der sich um die Kinder kümmert. Dann ist irgendwie rausgekommen, dass diese Frau anschaffen geht. Sofort wurde das Jugendamt eingeschaltet und die Kinder sollten von dieser Frau weg. Da muss man sich natürlich fragen: ‚Warum ist eine Mutter, die als Prostituierte arbeitet, eine schlechte Mutter?’“

Zur Aktion „Sieben Tage, 24 Stunden rund um den Bahnhof“ auf www.ekhn.de/bahnhof

(Peter Krauch)

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