Impuls
Sehen und Hören lernen
05.11.2025
hjb
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Wir erinnern am Sonntag an den 9. November 1938; es war der Tag, an dem in ungezählten Orten des deutschen Reiches Synagogen brannten, jüdische Geschäfte geplündert und jüdische Mitmenschen gequält und getötet wurden.
Hier hob sich der Deckel, unter dem schon lange eine gefährliche Brühe kochte. Der Weg in den Holocaust war das Ergebnis einer verhängnisvollen Entwicklung. Aus einer Demokratie wurde eine diktatorische Ausgrenzungsgesellschaft.
Veränderungen in einer Gesellschaft nimmt man oft erst im Rückblick wahr. Die Gegenwart scheint schwachsichtig zu sein für das, was schleichend in die Köpfe und Herzen kriecht. Kann man nicht schon in der Gegenwart hellsichtig sein - statt verblendet oder blind? Gibt es eine Schule, in der wir unsere Augen und unseren Verstand bilden können, um scharfsichtig zu sein oder unsere Nase, um einen „Braten“ früher zu „riechen“?
Eines habe ich in meinem Leben immer wieder erlebt: Dass Gottes Wort eine gute Schule ist, in der wir das Sehen und Hören lernen. Sie lehrt die Wachsamkeit vor „Feindbildmacherei“. Sie lehrt Mitmenschlichkeit, weil alle Menschen Gottes Ebenbild sind. Sie lehrt uns den Umgang mit Schuld, die nicht verleugnet werden darf, sondern bekannt werden muss, damit ihre Folgen eine Grenze haben. Sie lehrt den Segen der Wahrheit, auch wenn man sich in der Lüge gemütlicher einrichten kann. Sie lehrt durch Christus das „Mitleiden“.
Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Christus … ging ihm [dem Leiden] in Freiheit entgegen, ergriff es und überwand es. … Wir sind gewiss nicht Christus … wir sind nicht Herren, sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte, wir können das Leiden anderer Menschen nur in ganz begrenztem Maße wirklich mitleiden. Wir sind nicht Christus, aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, dass wir an der Weite des Herzens Christi teil bekommen sollen in verantwortlicher Tat …. Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen. ” (Widerstand und Ergebung, DBW 8, 33f)
Ich wünsche mir, dass Gott uns zu wachen Zeitgenossen macht und uns aus aller Trägheit herausholt, damit wir die Stunde nicht verpassen, in der es heißt aufzustehen und Botschafterin und Botschafter des Friedens Christi zu sein.
Ralf Arnd Blecker ist Pfarrer für Kranken-Seelsorge an den Dill Kliniken Dillenburg sowie im Nachbarschaftsraum "Evangelisch um den Wilhelmsturm"
