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1968

Kinderladenbewegung wirkt bis heute nach

Lizalica/istockIn den alternativen Kinderläden übernahmen die Eltern die ErziehungIn den alternativen Kinderläden übernahmen die Eltern die Erziehung

Vieles von dem, was heute in einer Kita selbstverständlich ist, kommt aus der 68er Bewegung. Kinder dürfen mitgestalten, Eltern sollen mitreden, Lernfortschritte werden dokumentiert, das Team leitet gemeinsam und auch Männer werden Erzieher. Alles längst vertraut und doch erst durch die Kinderladenbewegung der späten 60er Jahre angeregt. Aber die Verhältnisse waren damals deutlich anders.

Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Frankfurt zu den Kinderläden am 9. März 2018 fragte die Erziehungswissenschaftlerin Meike Baader, ob die Erziehung instrumentalisiert worden sei „auf dem Weg zur Schaffung eines neuen Menschen“. Weil die Fragen der Erziehung nur zusammen mit der politischen Radikalisierung dieser Zeit gesehen werden könne, nannte die Hildesheimer Professorin 68 ein „politisch vermintes Gelände“. 68 sei ein „emotionalisierte Ereignis der Zeitgeschichte“. 

Protest gegen die Erziehungspraxis der Eltern

Die ersten Kinderläden begannen als Selbsthilfegruppen der Eltern, um ihre Kinder zu betreuen. Denn besonders in den Universitätsstädten waren Kindergartenplätze knapp. Eltern mieteten leerstehende Lebensmittelläden, weil sie den notwendigen Wasseranschluss hatten. Da sie alles selbst organisieren mussten, diskutierten die Eltern auch die pädagogischen Konzepte. Diese Generation junger Leute wollte sich mit der Erziehungspraxis ihrer Eltern auseinandersetzen. Und die Mütter wollten entweder studieren oder arbeiten gehen und sich politisch engagieren. 

Trau keinem über 30

Der Spruch „Trau keinem über 30“ fasst die Haltung der Jugend in den 60ern zusammen. Die globale Protestbewegung nahm ihren Ausgang an den Universitäten in den großen Städten. Mit ihrem starken Selbstbewusstsein forderten die jungen Leute das Ende des Vietnamkrieges und mehr Teilhabe an den Lebens- und Entscheidungsprozessen der Gesellschaft, also Partizipation. In Deutschland kam ein zentrales Thema hinzu: die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die kritische Jugend griff ihre Eltern an: Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan?

Selbstregulative Erziehung

Als einen Grund für den nationalsozialistischen Wahnsinn erkannte die Generation der Kinder die Erziehung zum Gehorsam und zur Wohlanständigkeit, der ihre Eltern geprägt hat. Sie setzen Partizipation und Mitbestimmung gegen die „Normalerziehung“. Ihr großes Vorbild war Alexander Neill, der in seinem Kinderheim im südenglischen Summerhill seit 1921 Kinder „selbstregulativ“ erzog. Den Begriff „antiatoritär“ hat er selbst nie verwendet. Als Ziele des Lebens nannte er glücklich zu werden und kritikfähig zu werden. Die Kinder genossen größte Freiheit, konnten also selbst entscheiden, ob sie in die Schule gehen oder nicht. Alles wurde ausgehandelt und es gab keine körperlichen Strafen.

Erster Kinderladen in Frankfurt

Bereits 1967 gründete Monika Seifert in Frankfurt am Main den ersten repressionsfreien Kindergarten, den sie "Frankfurter Kinderschule" nannte. Noch im selben Jahr gründete die „Mutter der antiautoritären Kinderläden“ das „Rödelheimer Grundschulprojekt“ und 1974 die Freie Schule Frankfurt. Im selben Jahr gab es in Berlin bereits 300 Kinderläden. Alle waren von der reformpädagogischen Bewegung geprägt, hatten jedoch sehr unterschiedliche Ausprägungen von antiautoritär bis liberal und von der Eltern-Kind-Gruppe bis zur Kinderkommune oder vom Spielkreis bis zur Kinderschule. 

Sexualisierung der Pädagogik

„Erziehung zum Ungehorsam“ wurde Ende 1969 zum vieldiskutierten Schlagwort, nachdem Gerhard Bott in einem ARD-Film über die Kinderläden berichtet hatte. Bilder von nackten Kindern und die These, befreite Sexualität würde zu einem befreiten Leben führen, bewegte plötzlich die Bundesrepublik Deutschland. Die starke Betonung der Sexualerziehung speiste sich aus der Lektüre des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der lehrte, alle Neurosen entstünden aufgrund gestauter Libido. Zwei Jahre später gab es heftige Reaktionen auf einen Spiegel-Artikel, der über ein Frankfurter Schulprojekt berichtet hatte, in dem Kinderladenkinder und normale Rödelheimer Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Es dauerte mehr als ein halbes Jahr, bis die unterschiedlich erzogenen Kinder gemeinsam lernen konnten. 

Zu den Kinderläden kam Schulläden, Denn für viele junge Eltern war klar: Ich überlasse dem Staat mein Kind nicht länger als unbedingt notwendig. Schließlich war die Erziehung nur ein Teil der politischen Kritik einer jungen, überwiegend intellektuellen, Generation, die sich in unterschiedliche politisch linke Gruppen teilte. Die 68er waren die Kriegskinder, die zwischen  1938 und 1948 geboren sind, und sich nun in K-Gruppen, im DKP-Lager, bei den Maoisten oder auch bei der RAF sammelten. 

Kinderläden sind Vorreiter von Integration und Inklusion gewesen

Sehr viel von dem, was die Kinderläden ausprobiert hätten, sei „in den Mainstream eingegangen“. Die Kinderläden seien Vorreiter von Integration und Inklusion gewesen. Seit Mitte der 90er Jahre gelte der „Verhandlungsstil“, in dem Eltern und Kinder partnerschaftlich miteinander umgingen. „Seit 2000 steigt wieder die Zustimmung, die Kinder so zu erziehen, wie man selbst erzogen wurde.“  Und die Generation Y, wie man die nach 2000 Geborenen nennt, sei wieder sehr pragmatisch und nicht ideologisch ausgerichtet. 

Lesetipp:

Ein Kinderbuch, dass seit 1844 um die Welt ging, war der Struwwelpeter. Darin werden Kinder, die nicht gehorchen wollen, hart bestraft. Ganz im Sinn der neuen pädagogischen Aufbruchs hat der Satiriker Friedrich Karl Waechter 1970 den „Anti-Struwwelpeter“ herausgebracht. Darin werden strenge Erzieher und Autoritäten aufs Korn genommen.

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